Grosbritemnien. (Ende September.) 585
des Grafen Berchtold während dieser kritischen Zeit gezogen worden sei.
In Wirklichkeit war Seine Exzellenz vollständig im Dunkeln gehalten
worden. Was mich angeht, so war mir von seiten des Grafen Berchtold
keine Andeutung von dem drohenden Sturm gegeben worden; aus privater
Quelle erhielt ich am 15. Juli den Vorgeschmack von dem, was sich ab-
spielen sollte, und was ich Ihnen am folgenden Tage telegraphierte. Wohl
hatten während dieser ganzen Zeit die „Neue Freie Presse“ und andere
leitende Wiener Zeitungen eine Sprache gebraucht, die unverkennbar auf
den Krieg mit Serbien hinzielte. Das amtliche „Fremdenblatt“ dagegen
war vorsichtiger, und bis zur Veröffentlichung der Note herrschte unter
meinen Kollegen die Ansicht vor, daß Oesterreich-Ungarn sich vor Schritten
scheuen würde, die dazu geeignet wären, es in schwere europäische Ver-
wicklungen hineinzuziehen. Am 24. Juli wurde die Note in den Zeitungen
veröffentlicht. Mit allgemeinem Einverständnis wurde sie alsbald als ein
Ultimatum verzeichnet: Daß Serbien sie im ganzen annehmen würde, wurde
weder erwartet, noch war es erwünscht, und als am Nachmittag darauf in
Wien zunächst das Gerücht umlief, daß sie bedingungslos angenommen
worden sei, herrschte einen Augenblick eine lebhafte Enttäuschung. Der
Fehler wurde bald richtig gestellt; als es später am Nachmittag bekannt
war, daß die serbische Antwort zurückgewiesen worden sei und daß Baron
Giesl die Beziehungen in Belgrad abgebrochen habe, brach in Wien eine
leidenschaftliche Freude aus. Große Volksmengen bewegten sich auf den
Straßen und sangen patriotische Lieder bis in die ersten Morgenstunden.
Diese Kundgebungen verliefen durchaus offensiv, indem sie meistens aus
wohlgeleiteten Umzügen durch die Hauptstraßen bestanden und beim könig-
lichen Ministerium endeten. Ein oder zwei Versuche der Veranstaltungen
feindlicher Kundgebungen gegen die russische Botschaft wurden durch die starke
Polizeiwache vereitelt, welche die Zugänge zu den wichtigsten Botschaften
besetzt hielt. Das Verhalten der Bevölkerung Wiens und, wie ich erfuhr,
der meisten andern großen Städte der Monarchie stellte deutlich die Volks-
tümlichkeit des Gedankens an einen Krieg mit Serbien dar. Und es kann
kein Zweifel darüber obwalten, daß die kleine Gruppe der österreichischen
und ungarischen Staatsmänner, die den folgenschweren Schritt beschlossen,
die Stimmung und man kann sogar sagen den Willen des Volkes richtig
erfaßt hatten, außer vermutlich den Teilen der von den slawischen Rassen
bewohnten Provinzen. Es hatte in manchen Kreisen eine große Enttäuschung
gegeben, als während der Annexionskrise im Jahre 1908 und dann wieder
im Zusammenhang mit dem jüngsten Balkankriege der Krieg mit Serbien
vermieden worden war. Die Friedenspolitik des Grafen Berchtold hatte
in der Delegation wenig Anklang gefunden. Nunmehr waren die Schleusen
geöffnet, und das gesamte Volk und die Presse heischten mit Ungeduld die
sofortige und angemessene Strafe der verhaßten serbischen Rasse. Im Lande
glaubte man bestimmt, daß man nur vor der Wahl gestanden habe, Ser-
bien zu unterwerfen oder früher oder später von ihm verstümmelt zu
werden. Es hätte jedoch zuerst eine friedliche Lösung versucht werden
müssen. Man schien nur zu erwägen, daß ein Zwangseingriff einer Groß-
macht auf dem Balkan unvermeidlich andere Großmächte auf den Plan
rufen würde. Die Sache Oesterreich--Ungarns galt für so gerecht, daß es
dem Volke unbegreiflich schien, es könnte ein anderer Staat sich ihm in
den Weg stellen oder es würden anderswo Fragen rein politischer Art
oder Fragen des Ansehens als wichtiger betrachtet werden, als die Not-
wendigkeit, die sich ergeben hatte, für das Verbrechen von Serajewo sum-
marische Rache zu üben. Die Ueberzeugung, daß Rußland abseits stehen
würde, war mir am 24. Juli durch den deutschen Botschafter geäußert