Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Greßbrilannien. (Ende September.) 591 
untätig bleiben. Dieser Erklärung folgten militärische Maßnahmen auf dem 
Fuße, die den Beginn der von langer Hand vorbereiteten Mobilmachung 
der russischen Armee darstellten. In einem vom Zaren am 30. Juli an 
den Deutschen Kaiser gerichteten Telegramm (Anlage 23a des deutschen 
Weißbuchs) wird ausdrücklich mitgeteilt, daß jene militärischen Maßregeln 
schon vor fünf Tagen, also am 25., beschlossen worden seien. Dagegen er- 
tlärte am 27. Juli der Kriegsminister Suchomlinow dem deutschen Militär- 
attaché ehrenwörtlich, daß noch keine Mobilmachungsorder ergangen sei, 
daß kein Pferd ausgehoben, kein Reservist eingezogen werde. Obwohl in 
dieser Unterredung dem russischen Kriegsminister kein Zweifel darüber ge- 
lassen worden war, daß Deutschland Mobilmachungsmaßnahmen gegen 
Oesterreich-Ungarn auch für sich selbst als höchst bedrohlich betrachten müsse, 
liefen in den nächsten Tagen in raschem Tempo die Nachrichten über die 
russische Mobilisierung ein. Am 29. Juli ordnete die russische Regierung 
die Mobilisierung in Süd= und Südwest-Rußland an, die am 30. auf 
23 Gouvernements ausgedehnt wurde. Jetzt fehlte, wenn Rußland den 
Krieg herbeiführen wollte, nur noch ein Schritt, die Gesamtmobilmachung 
des russischen Heeres. Diese wurde, während die Bemühungen des Deutschen 
Kaisers um den Frieden bei entgegenkommender Aufnahme in Wien fort- 
dauerten, am 31. Juli vormittags in Petersburg anbefohlen. Noch um 
2 Uhr nachmittags am selben Tage aber telegraphierte der Zar an den 
Kaiser, es handle sich hierbei lediglich um durch Oesterreichs Mobilisierung 
nötig gewordene militärische Vorbereitungen, deren Einstellung aus tech- 
nischen Gründen unmöglich sei; er gab gleichzeitig sein feierliches Wort, 
daß er weit davon entfernt sei, den Krieg zu wünschen. 
Bei so offenbarer Doppelzüngigkeit der russischen Politik 
wäre ein weiterer Aufschub auf unserer Seite geradezu ein Verbrechen gegen 
Deutschlands Sicherheit und vor dem deutschen Volk nicht mehr zu ver- 
antworten gewesen. Daher erhielt am gleichen 31. Juli der kaiserliche Bot- 
schafter in Petersburg den Befehl, der russischen Regierung zu eröffnen, 
daß Deutschland als Gegenmaßregel gegen die allgemeine russische Mobil- 
machung vorläufig den Kriegszustand in Deutschland verkündet habe, der 
die Mobilisation folgen müsse, wenn Rußland seine militärischen Matz- 
nahmen nicht binnen 12 Stunden einstelle. Hierauf hat die russische 
Regierung überhaupt keine Antwort gegeben, und es blieb der deutschen 
Regierung nichts übrig, als der russischen nach Ablauf der gestellten Frist 
am 1. August erklären zu lassen, daß wir uns als im Kriegszustand mit 
ihr befindlich betrachteten. Schon am 1. August rückten russische Truppen 
auf deutsches Gebiet vor, und Rußland begann damit den Krieg 
gegen uns. 
Dies ist in lückenloser chronologischer Folge der Sachverhalt. Es 
bleibt allen nachträglichen Ausarbeitungen englischer Diplomaten zum Trotz 
bei dem, was der Reichskanzler bereits am 3. August in seinem dem Reichs- 
tage vorgelegten Weißbuche ausgesprochen hat: Die russische Regierung hat 
durch ihre Mobilmachung die mühsame Vermittlungsarbeit der europäischen 
Statskanzleien kurz vor dem Erfolge zerschlagen. Die Mobilisierungs- 
maßregeln in Verbindung mit ihrer fortgesetzten Ableugnung zeigen klar, 
daß Rußland den Krieg wollte. Und England auch. Eine einfache 
Erklärung aus London nach Petersburg, daß panfslawistische Bestrebungen 
Rußlands gegen Oesterreich-Ungarn durch den Dreiverband nicht gedeckt 
seien, hätte genügt, um die russische Kriegsluft zu dämpfen, und auch 
Frankreich würde sich beim Abrücken Englands von der Begünstigung 
einer allslawischen Politik dem Bündnisfall haben entziehen können. 
Schließlich erinnern wir an den Bericht des königlich belgischen Geschäfts-
	        
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