Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

292 Lenishhes NReitz. (März 14. 
haben. (Sehr richtigl) Und wenn es Leute gibt, die unabhängig und 
materiell sichergestellt, es zu ihrer Lebensaufgabe machen, im Parlament 
tätig zu sein, hier gewissermaßen die Traditionen aufrecht zu erhalten und 
den Kollegen, die mit Berufsgeschäften überlastet sind, manches abzunehmen, 
dann sollte das doch eine andere Anerkennung finden als diese Verhöhnung 
des Berufsparlamentariers. Weiter wurde gesagt: Die jetzige Zeit eigne 
sich nicht recht für Verfassungsänderungen. Schon der Vorredner hat betont, 
endlich einmal müsse doch die Zeit kommen, wo man sich über gewisse 
Streitfragen einige, und die Verfassungsänderung sei eigentlich nur eine 
sormelle. Wir haben in der Tat schon eine ganze Menge solcher Ver- 
fassungsänderungen machen müssen und werden das noch öfter tun müssen. 
Und schließlich ist der Vorwurf, daß man an der Verfassung nicht rütteln 
dürfe, noch besonders merkwürdig, wenn er aus einem Hause kommt, das 
seine Existenz nur einer Verfassungsänderung zu verdanken hat. Und noch 
dazu einer, die auf einer juristisch recht fraglichen Grundlage beruht. Dann 
hat der betr. Redner alle Schleusen seiner Beredsamkeit geöffnet. Aller 
Grimm, den er aufgespeichert hat, mußte heraus. Er behandelte den U-Boot- 
krieg, den Fall des vaterländischen Hilfsdienstes, den internationalen Ver- 
kehr der Parlamente, die Diplomatie, den Fall Polen, die Demokratie in 
Frankreich. Verwunderlich ist auch der Vorwurf des Kompromisses, alle 
Politik bewegt sich in Kompromissen, wo der eine dem andern entgegen- 
kommen muß. Die konservative Partei hat davon ausgiebigen Gebrauch 
emacht. Dann der Vorwurf gegen die ständigen Kommissionen. Der Herr 
cheint nicht zu begreifen, daß wir augenblicklich Krieg haben. Oder er 
faßt die Sache so auf, daß man das Volk einfach in den Krieg hinein- 
führt und es wieder herausführt, daß es aber dabei den Mund zu halten 
hat. Daß aber das Volk den Wunsch hat, mit der Regierung in Fühlung 
zu bleiben, scheint ihm nicht einzuleuchten. Traurig ist es auch, daß die 
vaterländischen Verdienste des Reichstags nicht anerkannt werden, daß 
Vorwurf auf Vorwurf gehäuft, aber mit keinem Wort darauf hingedeutet 
wird, wie großzügig sich der Reichstag in allen Dingen benommen hat, 
daß er auf einen großen Teil seiner Gesetzgebungsrechte verzichtet hat. 
Der ständige Ausschuß ist nur ein schwaches Gegenmittel. Unser Ausschuß 
hat seinen U. Bootbeschluß gefaßt, als das Abgeordnetenhaus selbst nicht 
beisammen war, und er hat es getan, um in einer wichtigen Frage seiner 
schweren Besorgnis Ausdruck zu geben. Von einer Kompetenzüberschreitung 
kann dabei gar keine Rede sein. Uebrigens war doch gerade die konserva- 
tive Partei des Abgeordnetenhauses in dieser Frage führend, und die Vor- 
würfe des Grafen Yorck richten sich daher in erster Linie gegen die konf. 
Fraktion des Abgeordnetenhauses. Dem Herrenhaus selbst liegen zwei An- 
träge vor, die sich mit der auswärtigen Politik und mit dem U-Bootkrieg 
beschäftigen. Das Herrenhaus hat sich also selbst dann einer Kompetenz- 
überschreitung schuldig gemacht. Graf Yorck meinte dann weiter, die politi- 
schen Freiheiten in Deutschland könnten wegen des militärischen Druckes, 
dem Deutschland von allen Seiten ausgesetzt sei, nicht groß sein. Man 
merkt den Pferdefuß. Diese Anschauung ist gerade durch den Krieg gründ- 
lich widerlegt worden, denn der Krieg hat gezeigt, daß die militärische 
Kraftentfaltung durchaus unabhängig ist von der Form der Regierung. 
Die Länder mit einer demokratischen Verfassung haben eine militärische 
Kraft entwickelt, die wir zu unserem Schaden vielleicht unterschätzten. 
Graf Yorck bemängelte den wachsenden Einfluß des Reichstags auf die 
auswärtige Politik, dabei sollte doch keine Meinungsverschiedenheit darüber 
bestehen, daß wir alle eine grobe Unterlassungssünde dadurch begangen 
haben, daß wir uns bisher zu wenig mit der auswärtigen Politik befaßt
	        
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