Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

294 Beutsches Reich. (März 14.) 
Antrag ist nicht der der Verbitterung oder Mißstimmung über die Ab- 
lehnung, sondern er kommt aus dem Bewußtsein, daß mit diesem Herren- 
haus auf die Dauer nicht zu arbeiten ist, wenn die andern großen Fragen 
akut werden, mit denen wir nach dem Kriege zu tun haben werden. Hier 
heißt es: Was du tust, das tue bald. Wer nicht Angst vor seiner eigenen 
Courage hat, der möge unsern Weg mitgehen. Das Herrenhaus muß 
durch seine einseitige Zusammensetzung ein Hemmschuh der Entwick- 
lung werden. Es ist bekannt, daß Fürst Bismarck selbst betont hat, daß 
ein Oberhaus, das aus Wahlen hervorgehe, ein viel größeres Ansehen haben 
würde, und ähnlich hat sich ein im Grunde seines Herzens auch recht kon- 
servativer Mann wie Treitschke geäußert, der meinte, das Herrenhaus sei, 
so verbildet, daß man hier gar keine bessernde Hand anlegen könnte. Das 
einzig Gute am Herrenhause wäre, daß es überhaupt vorhanden sei; da- 
durch würden vielleicht unbesonnene Schritte des anderen Hauses verhindert 
werden können. Wenn Treitschke den kürzlichen Beschluß des Herrenhauses 
erlebt hätte, würde er aber wohl selbst diese eine gute Seite dem preußischen 
Herrenhause nicht mehr zubilligen. (Heiterk. und lebh. Zust. I.) So geht es 
eben nicht mehr weiter, deshalb ist eine Reform an Haupt und Gliedern 
notwendig. Ich möchte schließen mit einem Zitat, das Graf Vorck sich 
hat entgehen lassen. Man sagt häufig: Ein Volk hat die Regierung, die 
es verdient. Wenn man den Begriff der Regierung im weitesten Sinne 
nimmt, also auch die Gesetzgebung darin einbegreift, dann könnte man 
auch sagen: Jedes Volk hat die Regierung und die Parlamente, die es 
verdient. Aber ein Herrenhaus wie dieses hat das preußische Volk wirk- 
lich nicht verdient. Deshalb muß es von Grund auf reformiert werden. 
(Lebh. Beif. I.) 
Abg. v. Kardorff (Freik.): Ein starkes Drittel meiner Freunde hat 
gegen die Diätenvorlage gestimmt, aber heute stehen wir dem Herrenhaus 
solidarisch gegenüber. Durch diese Besprechung ist ein schwerer politischer 
Schaden entstanden, in einem Umfang, der in keinem Verhältnis zu der 
Materie steht. Das Herrenhaus hatte das gute Recht, die Vorlage ab- 
zulehnen, aber es ist in allen Ländern mit Zweikammersystemen ein fest- 
stehender politischer Grundsatz, ein Grundsatz politischen Taktes, daß das 
eine Haus nicht Kritik übt an der Geschäftsgebarung des anderen; ich werde 
gegen diesen Grundsatz nicht verstoßen. Daß die Vorlage ein Schritt zur 
Erweiterung der Parlamentsrechte sei, ist eine Uebertreibung, die ich namens 
meiner Freunde zurückweise. Wir halten fest an unserer Monarchie. An 
einer zweiten Kammer, die aus dem Volke heraus gewählt ist, und wir 
halten auch fest an einer ersten Kammer. Die Kritik des Abg. Friedberg 
am Herrenhaus geht doch zu weit. In verschiedenen Fragen, wie denjenigen 
der Feuerbestattung, der Elektrisierung der Stadtbahn, der Landgemeinde- 
ordnung usw., hat das Herrenhaus keinen reaktionären Standpunkt, sondern 
einen maßvollen eingenommen. Wir bedauern diese Vorgänge nicht nur 
wegen der Kritik, die an uns geübt ist, sondern im Interesse des Ansehens 
des Herrenhauses. Wir brauchen ein Herrenhaus, später vielleicht ein starkes 
Herrenhaus, aber den Geist, der aus diesen Verhandlungen heraus- 
geströmt ist, lehnen meine Freunde sämtlich auf das entschie- 
denste ab. Mit diesem Geist haben wir nichts zu tun, ich bedaure ihn 
gerade von unserem konservativen Standpunkt aus. Die Politik geht nach 
dem Kriege weiter. Es wird manches anders werden, es ist richtig, bei- 
zeiten vorzubeugen und beizeiten neue Träger einzuführen und alte Träger 
zu beseitigen. Aber nur durch eine Politik eines gesunden, maßvollen Fort- 
schrittes werden wir Herr des Radikalismus werden, nur wenn wir das 
historisch Gewordene weiter bauen, das festgehalten werden muß, nur dann
	        
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