Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

442 Beutiches Reich. (April 24.—Mai 1.) 
des Deutschen Reiches und des Volkes könne man keine inneren Unruhen., 
leine längeren Streiks brauchen, deshalb bedauere auch er, daß solche vor- 
vereitet und ausgebrochen seien. Die Regierung müsse sich allerdings fragen. 
od# fie nicht einen erheblichen Teil der Schuld an den Vorkommnissen trage 
wegen ihrer Unterlassungsfünden in der Lebensmittelversorgung. 
Hierauf erwidert der Chef des Kriegsamts Generallt. Groener: Es 
hat mich gefreut, daß der Vorredner die Rüstungsstreiks veruriilt hat, 
odber er hätte weiter gehen können. Nicht nur längere Streiks sind vom 
Uebel, sondern überhaupt jeder Streik, und wenn er nur drei Stunden 
dauert. Wir müssen unsere Produktion mit allen Mitteln steigern, und, 
solange ein Arbeiter nur die mindeste Kraft in sich hat, hat er die mora- 
lische Pflicht, diese Kraft dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Wie 
war denn die Sache mit dem Streik in der vorigen Woche? Nach dem 
langen Wrukenwinter, den wir hinter uns hatten, und nach der langen 
Költe verstehe ich durchaus die Depression, in der sich die Arbeiter be- 
soanden, oder in die sie kamen, als plötzlich die Herabsetzung der Brotration 
eintrat. Es ist ein sehr bedauerliches Zusammentreffen, daß gerade in dem 
Moment, wo die arbeitenden Menschen wieder aufalmeten, diese Maßregel 
kommen mußte. Ich verstehe, daß eine gewisse Unruhe in die Arbeiterschaft 
hineinkam, um so mehr, als so manche Zusagen, die auf dem Gebiet der 
Lebensmittelversorgung gemacht worden waren, nicht in Erfüllung gehen 
konnten. Ich stehe nicht an, das hier zu erklären, denn es trifft zu, daß 
es an vielen Stellen nicht gelungen ist, die in gutem Glauben gemachten 
Zusagen zu erfüllen. Wir leiden ja noch immer darunter. Auch die Ar- 
beiter müssen einsehen, daß bei der ungeheuern Schwierigkeit der ganzen 
Materie sich hier und da solche Differenzen ergeben. Man muß es ihnen 
sagen, und man muß sie darüber eingehend aufklären. In diese Depression 
binein kam plötzlich — ich will nicht sagen woher — der Ruf: „Wirmüssen 
der Regierung zeigen, daß sie versäumt hat, rechtzeitig Maß- 
mahmen zu treffen, wir müssen demonstrieren. Wir wollen am 
16. streiken.“ Dieser Gedanke ging wie ein Lauffeuer durch die Fabriken. 
Ich bekam Briefe von Arbeitern, die die Sache beschrieben. Niemand wußte 
recht, woher die Sache kam. Es war der Boden bereitet für eine Massen- 
suggestion. Nun habe ich die Sache wenig tragisch ausgenommen, aus 
dem einfachen Grunde, weil ich sie mir aus psychologischen Gründen er- 
klärte. Am 16. sollte gestreikt werden. Ich habe für meinen Teil bei den 
leitenden Persönlichkeiten immer davor gewarnt, nun sofort mit strengen 
Maßregeln vorzugehen, weil ich der Auffassung war, man tue ganz gut, 
das Ventil einmal etwas zu öffnen und die Stimmung abblasen zu lassen. 
Der 16. trat ein. Die Leute waren durchaus vernünftig. Sie gingen heraus 
aus den Fabriken, sie wußten selbst nicht recht, warum. Ich habe hier einen 
Brief liegen, den ich erst heute vormittag bekam, worin ein Arbeiter mir 
schreibt: „Ja, wir haben gefragt, warum sollen wir eigentlich streiken? 
Warum sollen wir heraus aus den Fabriken? Am 16. um 9 oder 10 Uhr 
früh riefen einzelne Leute in die Fabriken: „Nun aber heraus aus der 
Fabrik, Leute! Einige mutige Leute frugen da, aus welchem Grunde und 
zu welchem Ziele? Sie erhielten keine Antwort. Ab und zu wurde ge- 
antwortet: Du hast doch Hunger, du sollst zeigen, daß du Hunger hast!“ 
Das war die Tendenz. Am 16. und auch am 17. zeigte sich unter den 
Arbeitern viel Verständigkeit. Tausende gingen hinaus in den Grunewald, 
gut gekleidet, und machten sich einen guten Tag. Ich hätte gar nichts da- 
gegen einzuwenden, von meinem Standpunkte aus. Unterdessen hatten die 
Gewerkschaften, denen vorher der Massensuggestion gegenüber ein Einfluß 
nicht ausreichend möglich war, die Leitung der Sache in die Hand ge-
	        
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