120 Vie Fserreichischumgarische Menarchie. (Juni 20.—22.)
Ministerpräsident Graf Clam-Martinic überreicht dem Kaiser in-
folge der oppositionellen Haltung des Polenklubs (s. S. 119) die Demis-
sion des gesamten Kabinetts. Der Kaiser beauftragt den Minister-
präsidenten, die Umbildung des Kabinetts durchzuführen. (S. u.)
20. Juni. Der Kaiser und die Kaiserin empfangen den bulg.
Ministerpräsidenten Dr. Radoslawow in besonderer Audienz.
Der Kaiser verleiht dem Ministerpräsidenten das Großkreuz des Leopold-
ordens in Brillanten.
20. Juni. (Wien.) Beginn des Osterr. Wasserstraßentages.
Aus Deutschland sind zahlreiche Vertreter anwesend. Die Verhand-
lungen drehen sich hauptsächlich um den Donau-Oder-Kanal und seine Ber-
bindungen mit Elbe und Weichsel.
21. Juni. Rücktritt des Kabinetts Clam-Martinic.
Da der Plan, ein durch die Aufnahme von sechs Landsmann-
ministern erweitertes Kabinett zu bilden, an der Haltung des Polenklubs,
der erklärt, das Projekt nur unter der Bedingung, daß auch die Tschechen
beitreten, annehmen zu können, scheitert und auch der Versuch, dos sog.
kleine Programm und zwar das Budgetprovisorium, die Delegationswahlen
und die Mandatsdauer zu sichern und auf diese Weise wenigstens ein
Provisorium über die Sommermonate hinaus zu ermöglichen, sich als
unausführbar erweist, unterbreitet der Ministerpräsident dem Kaiser die
Bitte, den Rücktritt des gesamten Kabinetts an3zunehmen und eine andere
Persönlichkeit mit der Kabinettsbildung zu betrauen. Das Gesuch wird am
22. genehmigt. (Kais. Handschreiben s. S. 125.) Die Gegnerschaft der
Tschechen gegen das Ministerium ist weniger durch sachliche Gründe als
durch persönliche Abneigung gegen den Ministerpräsidenten verursacht.
Ueber die Tätigkeit des Kabinetts führt die „Köln. Ztg.“ in einem
Wiener Artikel u. a. aus: Genau sechs Monate war das Kabinett im Amte.
Trotz dieser kurzen Zeit wird es in der Geschichte Oesterreichs einen sicht-
baren Platz einnehmen. Nicht sowohl deswegen, was es geleistet hat, son-
dern deswegen, was es hat leisten wollen, und wegen der Folgen, die
dieses sein Streben für die weitere Entwicklung Oesterreichs haben wird.
Denn geleistet hat es eben positiv nichts. Wollen und Vollbringen stand
bei Graf Clam in argem Mißverhältnis. Den Entschluß, die Neuordnung
der österr. Monarchie mit einigen wenigen kaiserlichen Federstrichen durch-
zuführen, hat er nur rein theoretisch erwogen, ihn auch zu fassen und bis
zur Unerschütterlichkeit mit ihm zu verwachsen, dazu hat ihm die Kraft
gefehlt. Fünf Monate lang hat er den Zauderer gespielt, bis schließlich
der letzte psychologische Augenblick für die Verwirklichung des mutigen
Planes verpaßt war und die russische Revolution die mächtige, weithin
wirkende demokratische Welle aufwarf, die ihn mit seinem unsicher ge-
steuerten Nachen auf den Strand setzte. Als ein Gescheiterter tritt er ab
von der pol. Bühne. Aber seine Hinterlassenschaft wird nicht mit ihm ver-
schwinden. Der Fluch verpaßter Gelegenheiten und dilettantischer Versuche,
in Oesterreich Ordnung zu machen, wird ihm nachhallen, und die Frucht
dieser kurzen, aber inhaltsschweren Epoche in Oesterreichs Entwicklung
werden neue heftige Erschütterungen sein.
21.—22. Juni. (Ung. Abgeordnetenhaus.) Programmrede
des Ministerpräsidenten.
Nachdem Ministerpräsident Graf Moritz Esterhazy eingangs erklärt
hat, daß die Existenzberechtigung der neuen Regierung die Wahlreform