I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 61. 191
lichkeit zugelassenes Publikum. Eine Unterwerfung unter jene Disziplin wird ihnen
weder in der Verfassungsurkunde, noch in irgend einem anderen Gesetze oder in irgend
einer Dienstinstruktion, noch in ihrem Anstellungspatente zur Pflicht gemacht. Anderer-
seitig existirt keine Bestimmung, welche dem Präsidenten oder der Kammer eine Diszi-
plinargewalt über die Minister ertheilt, existirt auch nicht in den Geschäftsordnungen.
Dieselben behandeln jene Gewalt die für das Herrenhaus in den 9§§ 45, 63, die für das
Abgeordnetenhaus in den §§ 48, 64. Die 8§8 45 bezw. 48 sprechen zwar nur allgemein
von dem „Redner“, aber daß darunter die Minister, welche auf ihr Verlangen zu jeder
Zeit gehört werden müssen, nicht fallen, zeigt der zweite Satz, welcher „dem Redner“
für den Fall eines erfolglosen zweimaligen Ordnungsrufes in der nämlichen Rede die
Entziehung des Wortes androht. Die 88 63 bezw. 64 betreffen nur den Fall, wenn
„ein Mitglied“ die Ordnung verletzt. Hiernach muß konsequenter Weise die Frage, ob
der Präsident auf Grund seiner Disziplinarbefugniß einen Minister in der Rede unter-
brechen und auf den parlamentarischen Brauch hinweisen darf, ebenfalls verneint werden,
zumal es zweifelhaft erscheint, ob die außerhalb des Kollegiums der Kammer bleibenden,
in derselben kraft der vom Monarchen ertheilten Autorisation erscheinenden Minister über-
haupt gehalten sind, den parlamentarischen Brauch zu respektiren. Dagegen kann der
Minister sofort in der Rede unterbrochen werden, wenn er zum Verfassungsbruche, zu
einer strafbaren Handlung, z. B. Hochverrath auffordert, weil dazu die Kammer nicht
schweigen darf, oder ein Mitglied der Kammer beleidigt oder — ein allerdings fast un-
denkbarer Fall! — die zwar ungeschriebenen, aber anerkannten Gebote des Anstandes,
der guten Sitte übertritt, weil dazu die Kammer nicht schweigen soll. Ist die Unter-
brechung nutzlos, so geben die 8§ 64 bezw. 65 der Geschäftsordnung dem Präsidium zu-
letzt das Recht, die Sitzung auszusetzen oder aufzuheben, wodurch zugleich die Befugniß
des Ministers, in den Räumen des Hauses zu verweilen, bis zum Widerbeginn der
Sitzung aufgehoben ist.
Artikel 61.
Die Minister können durch Beschluß einer Kammer wegen des
Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Ver-
rathes angeklagt werden. Ueber solche Anklage entscheidet der oberste
Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten. Solange noch
zwei oberste Gerichtshöfe bestehen, treten dieselben zu obigem Zwecke
zusammen.
Die näheren Bestimmungen über die Fälle der Verantwortlich-
keit, über das Verfahren und über die Strafen werden einem be-
sonderen Gesetze vorbehalten.
Ein Beamter kann durch amtliche Handlungen oder Unterlassungen, welche civil-
rechtlich widerrechtlich sind, dem Staate oder einzelnen Bürgern einen vermögens-
rechtlichen Schaden zufügen, sich gemeine Delikte oder besondere Amtsdelikte zu Schulden
kommen lassen, kann endlich allgemein die Pflichten, die ihm sein Amt auferlegt, ver-
letzen oder sich durch sein Verhalten in oder außer dem Amte der Achtung, des An-
sehens oder des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigen. Im ersten
Fall wird er vor das Civil-, im zweiten vor das Straf-, im dritten vor das Dis-
ziplinargericht gezogen. In den beiden ersten Fällen kann die ihm vorgesetzte Pro-
vinzial- oder Centralbehörde verlangen, daß das Oberverwaltungsgericht die Vorent-
scheidung treffe, ob er sich einer Ueberschreitung seiner Amtsbefugnisse oder der Unter-
lassung einer ihm obliegenden Amtshandlung schuldig gemacht habe, und wenn diese
Vorentscheidung verneinend ausfällt, ist der Rechtsweg gegen ihn unzulässig; siehe unten
Art. 97. Im dritten Fall wird die Einleitung des Drhipliwarverfahrene verfügt ent-
weder von dem Minister, welcher dem Angeschuldigten vorgesetzt ist, oder von derjenigen
Behörde, bei welcher der Beamte angestellt oder welcher er untergeordnet ist; siehe
unten Art. 87, 98. Da die Minister als die persönlichen Häupter der großen selbst-
ständig organisirten Verwaltungszweige, deren ganzes Behördensystem in ihnen seine
Einheit findet, keiner anderen Behörde unterstehen, so ist der Rechtsweg gegen sie stets
zulässig, ein Disziplinarverfahren aber unmöglich. An die Stelle desselben tritt das