I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 2. 45
A. Aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 53, wonach die Krone, den Königlichen Hausgesetzen
gemäß, in dem Mannsstamme des Königlichen Hauses nach dem Rechte der Erstgeburt
und der agnatischen Linealfolge erblich ist, ergiebt sich die Untheilbarkeit und Unver-
äußerlichkeit des Preußischen Staatsgebietes. Nur durch ein Gesetz können die Grenzen
des Staatsgebietes verändert werden.
Es fragt sich, ob sich die Vorschrift des Artikel 2 auch auf Grenzregulirungen
bezieht. Man hat hier unterscheiden wollen. Soweit nämlich die Grenzberichtigung nur
eine sachlich zweifellos vorhandene, aber später verdunkelte oder verwischte Grenzscheide
durch Setzung von Grenzzeichen u. dgl. äußerlich erkennbar zu machen versucht, eventuell
unter Theilung der streitigen Grenzstreifen, deren Neutralisirung, Konstituirung eines
Kondominats, soll lediglich eine durch die Vorschrift des Art. 2 nicht getroffene Ver-
waltungsmaßregel vorliegen, wogegen ein Gesetz verlangt wird, wenn die staatliche Ab-
sicht von allem Anfange an darauf gerichtet ist, durch Gebietserwerbungen mit oder ohne
kompensatorische Gebietsabtretungen die räumliche Ausdehnung des Staates zu verändern.
Aber diese Unterscheidung zwischen deklarativen und konstitutiven Grenzregulirungen ist
weder erforderlich, noch genügend. Bei wirklichen Grenzberichtigungen handelt es sich
eben um streitige Grenzen, bei deren bloßer Regulirung von Erwerb unzweifelhafter
Bestandtheile eines fremden, bezw. von Abtretung unzweifelhafter Bestandtheile des
Preußischen Staatsgebiets, auf welche allein Art. 2 bei einem sprachgemäßen Gebrauch
des Wortes „verändern“ sich bezieht, gar keine Rede sein kann. Dagegen können Ar-
rondirungen, Austausch von Enklaven, Vereinfachung der Grenzen durch gegenseitigen
Austausch, mag es sich auch nur um geringfügige Obiekte handeln, nicht mehr Grenz-
regulirungen genannt werden, sondern sind, einerlei wohin die ursprüngliche Absicht ging,
Grenzveränderungen im Sinne des Art. 2. Auch sie erfordern also ein Gesetz: Ueber-
einstimmung des Königs und des Landtages, Gegenzeichnung durch mindestens Einen
Minister, Königlichen Verkündigungsbefehl und Bekanntmachung in vorgeschriebener Form
(Art. 62, 44, 45, 106). Dagegen ist die bloße Uebereinstimmung zwischen Krone und
Volksvertretung ohne Einhaltung der Gesetzesform verfassungswidrig und kann, wegen
Art. 106 Abs. 2, zwar nicht von den Preußischen, wohl aber von den ausländischen
Behörden als rechtsungültig behandelt werden. Eine auch ohne solche Uebereinstimmung
stattgehabte Grenzveränderung enthält einen Verfassungsbruch, welcher allerdings, wenn
in eine gehörig verkündete Königliche Verordnung niedergelegt, in Preußen selbst nur
von dem Landtage für ungültig erklärt werden kann. — Seit der Gründung des Nord-
deutschen Bundes bezw. Deutschen Reiches hat sich übrigens die Sachlage verschoben.
Sobald nämlich durch die mit einem anderen Bundesstaate getroffene Grenzveränderung
die reichsrechtliche Stellung in Rechten und Pflichten dem Reiche gegenüber — z. B.
Stimmenzahl im Bundesrathe, Zahl der auf den Bundesstaat entfallenden Abgeordneten
zum Reichstage — alterirt wird, und bei ieder Veränderung der Grenzen gegenüber dem
Auslande ist die Genehmigung des Reichs, eventuell nach Art. 78 der Reichsverfassung
in Form eines Reichsgesetzes, erforderlich. Außerdem ist nach Art. 11 der Reichsver-
fassung das Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schließen, auf das Reich, vertreten
durch den Kaiser, übergegangen. Wenn also der Kaiser in einem Friedensschlusse einen
Theil des Preußischen Staatsgebietes an das Ausland abtritt, ist ein Akt der Preußischen
Gesetzgebung, durch welchen diese Abtretung angeordnet oder auch nur anerkannt wird,
nicht erforderlich.
Die Preußische Staatspraxis hat geschwankt. Bald ist ein ausdrückliches, die
Gebietsveränderung genehmigendes Gesetz erlassen, bald nur die Genehmigung des Land-
tages eingeholt und zwar im letzteren Falle mehrere Male ohne Publizirung der be-
treffenden Verträge in der Gesetzsammlung. Gelegentlich der Berathung über einen mit
Hamburg geschlossenen Vertrag hat das Herrenhaus im Jahre 1877 ausgesprochen, daß
die bloße Genehmigung des Vertrages Seitens des Landtages nicht ausreichend sei,
sondern es in allen Fällen dieser Art eines die Einverleibung, bezw. Abtretung der be-
treffenden Gebietstheile ausdrücklich aussprechenden Gesetzes bedürfe. Die Staatsregierung
ist diesem Ausspruche damals und auch später gefolgt, hat aber wundersamer Weise bei
der letzten Grenzveränderung die bloße Genehmigung für genügend erachtet. Es ist
schwer zu verstehen, wie der Landtag zu dem verfassungswidrigen Verfahren, von einem
förmlichen Gesetze abzusehen, haat die Hand bieten mögen. Die Erwägung, daß die
Rechtsgültigkeit eines solchen Vertrages von den Behörden nicht geprüft werden darf,
kann, von den ausländischen Behörden ganz abgesehen, der unzweideutigen Bestim-
mung der Verfassungsurkunde gegenüber unmöglich für durchgreifend erachtet werden
und trifft zumal jedenfalls dann nicht zu, wenn der Vertrag überhaupt nicht publizirt