Die höchste Staatsgewalt steht dem Senate und der Bürger-
schaft gemeinschaftlich zu.
Die gesetzgebende Gewalt wird von Senat und Bürgerschaft,
die vollziehende vom Senat,
die richterliche von den Gerichten
ausgeübt.
Zuvörderst fällt sprachlich der Ausdruck: höchste Staats-
gewalt auf. Die höchste Gewalt und die Staatsgewalt
sind die üblichen Wendungen, eine aus beiden komponierte:
höchste Staatsgewalt kennt im allgemeinen das Staatsrecht
nicht. Die Verfassungen der Schwesterstädte Lübeck und Bremen
sprechen nur von einer Staatsgewal.e Den Anspruch ein ge-
läufiger terminus technicus zu sein, kann die höchste Staatsgewalt
nicht erheben.
Die grössere Schwierigkeit bereitet aber das Verhältnis zwischen
dem ersten und zweiten Absatz.
Geht man davon aus, dass die „höchste Staatsgewalt“ des
ersten Absatzes die Staatsgewalt schlechthin ist, dann wird
man sich fragen müssen, was dieser Satz denn überall für eine
Bedeutung hat, wenn die Gesetzgeber die soeben Senat und
Bürgerschaft gemeinsam zugewiesene Staatsgewalt der letzteren
im zweiten Absatz bis auf den Anteil an der Gesetzgebung sofort
wieder gänzlich genommen haben. Das Verhältnis hat denn auch
einen berufenen Interpreten der Verfassung, Wolffson, zu dem
Bekenntnis genötigt: „Andererseits ist die Teilung der Gewalten
in der Verfassung so streng durchgeführt, und sind die Befug-
nisse jeder einzelnen dieser Körperschaften so genau definiert,
dass jenem allgemeinen Fundamentalsatz der Verfassung jetzt
mehr eine dogmatische als über die positiven Bestimmungen der
Verfassung hinaus praktisch verwertbare Bedeutung zuzugestehen
ist.“ Absatz 1 ist demnach also eine bedeutungslose Phrase,
ungefähr der schwerste Vorwurf, den man einem Staatsgrund-
gesetz machen kann, und gegen den von den Neueren sich schon
Zacharias voll Besorgnis gewehrt hat.
Fasst man aber die „höchste“ Staatsgewalt nicht als die
Staatsgewalt schlechthin auf, so muss sie ein Minus gegen letztere,
nur ein, wenn auch hervorragender Ausfluss der Staatsgewalt
sein. Begrifflich kann dann nur die Funktion der Gesetzgebung
als „höchste“ Staatsgewalt in Frage kommen. Damit ist man
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Artikel 6.