Einleitung.
— ——
Eine befriedigende Erläuterung der deutschen Reichsverfassung ist nur
dann möglich, wenn man sich zuvor über die rechtlichen Grundbegriffe klar
geworden ist, die hier in Frage kommen. Als der Norddeutsche Bund in's
Leben trat, wurde mit einer gewissen Genugthuung darauf hingewiesen, daß
diese Schöpfung des praktischen Bedürfnisses sich keinem der vorhandenen
Schulbegriffe anpassen wolle, daß die Theorie ihr rathlos gegenüber stehe.
Diese Bemerkung schien auf den ersten Blick nicht unberechtigt. Der Grund-
begriff, welchen man allein für anwendbar auf das neue politische Gebilde
erachtete, der Begriff des Bundesstaates, zeigte sich nach den verschiedensten
Seiten hin als unbrauchbar. In Folge dessen unternahmen es die Einen,
den Begriff, gleich wie er früher nach der amerikanischen Verfassung aus-
gearbeitet worden war, so jetzt nach der norddeutschen Verfassung umzu-
arbeiten; Andere wieder sahen sich genöthigt, zu erklären, unter die vorhan-
denen Begriffe lasse sich die neue Schöpfung nicht unterbringen. Von den
Anhängern dieser letzten Meinung hat es jedoch — von einem nicht ge-
glückten Versuche G. Meyer's (Staatsrechtliche Erörterungen über die deutsche
Reichsverfassung, Leipzig 1872) abgesehen — keiner unternommen, die da-
durch eingestandene Lücke in ver Staatsrechtslehre auszufüllen. Man begeg-
nete bei den Schriftstellern den verschiedensten Redewendungen über diesen
Punkt. So sagte Fr. Thudichum (Verfassungsrecht des Norddeutschen
Bundes und des Deutschen Zollvereins, Tübingen 1870, S. 53);: „Im
Ganzen betrachtet gehört der Bund zur Klasse der Bundesstaaten, obwohl
Einiges davon an den Staatenbund, Anderes an den Einheitsstaat erinnert.“
Auch L. v. Rönne (Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, Leipzig 1872,
S. 31) fand, daß die deutsche Verfassung, „hervorgegangen aus den realen
Zuständen und praktischen Bedürfnissen, den theoretischen Begriffen und ab-
strarten Postulaten der Staatsrechtswissenschaft keine Rechnung getragen“ habe.
Seydel, Commentar. 2. Aufl. 1