Full text: Staatsrecht des Königreichs Bayern.

56 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. III. Der Landtag. 8 22. 
oder eines Verfassungsgesetzes 1) erhoben werden. Man hat darüber gestritten, ob das Be- 
schwerderecht der Kammern auch dann platzgreife, wenn die Verletzung der Verfassung 
in der Verletzung eines konstitutionellen Rechtes eines Einzelnen besteht, der selbst Be- 
schwerde beim Landtage nicht erhoben hat. Diese Frage ist unbedenklich zu bejahen. 
Auch dieses Beschwerderecht besteht nur gegenüber Verwaltungsakten. 
Ist eine Verfassungsbeschwerde vom Landtage an die Krone gebracht worden, so 
kommt es darauf an, ob der König sofort von deren Begründung sich überzeugt und daher 
Abhilfe anordnet, oder ob ihm die Sache zweifelhaft erscheint. Im letzteren Falle ist nach 
der Verfassung die Beschwerde, je nach der Natur des Gegenstandes, der „obersten Ju- 
stizstelle“ d. h. dem Obersten Landesgerichte oder dem Staatsrate zur Untersuchung und 
Entscheidung zuzuweisen. 
Von tatsächlicher Bedentung ist nur die Zuständigkeit des Staatsrates. Hierüber ist 
folgendes zu bemerken. Der Staatsrat ist hier erkennende, nicht beratende Stelle. Sein 
Ausspruch bedarf daher der Genehmigung des Königs nicht. Die Entscheidung muß viel- 
mehr so, wie sie gefällt ist, verkündet werden, und es ist staatsrechtliche Pflicht der Staats- 
regierung, dieselbe zu vollziehen. 
Die Staatsratsentscheidungen über Verfassungsbeschwerden gelangen im Gesetz= und 
Verordnungsblatte zur Veröffentlichung. 
Es erübrigt noch zu untersuchen, wie es sich bei dem vorstehend geschilderten Stande 
unseres Rechtes mit der Anwendbarkeit des Art. 76 Abs. II der Reichsversassung :) in 
den Fällen verhält, wo Landtag und Staatsregierung in Verfassungsstreitigkeiten geraten. 
Der genannte Artikel bestimmt nämlich: „Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundes- 
staaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten be- 
stimmt ist, hat auf Aurufen eines Teiles der Bundesrat gütlich auszugleichen oder, wenn 
das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen“. 
Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf Bayern wird zu bejahen sein, da die Be- 
griffe der Beschwerde wegen geschehener Verletzung der Verfassung und der Verfassungs- 
streitigkeit sich nicht decken, der Staatsrat oder die oberste Justizstelle also nicht als Be- 
hörden zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten im Sinne der Reichsverfassung er- 
scheinen. Uebrigens ist zu bemerken, daß als „Teil“, der den Bundesrat anrufen kann, 
nur der Landtag, nicht eine Kammer sür sich zu erachten ist. 
4. Das Anklagerecht des Landtages wird besser bei Darlegung der staatsrecht- 
lichen Stellung der Minister erörtert werden. — 
Ueber die Behandlung der Beschlüsse der Kammern gelten die oben (S. 52) 
dargelegten gesetzlichen Bestimmungen (Geschäftsgangsges. Art. 39, 40). 
Die Kollegialrechte der Kammern bestehen in der Befugnis zur selb- 
ständigen Regelung ihrer Organisation und zur Besetzung ihrer Organe, zur Ordnung 
und Handhabung ihrer Disziplin und ihres Geschäftsgangs innerhalb der gesetzlichen 
Schranken. 
Die Kammern besitzen eine Gewalt über ihre Mitglieder, die sich nach 
innen in der Disziplin, nach außen dahin äußert, daß sie während der Danuer einer 
Landtagsversammlung gewisse obrigkeitliche Handlungen von ihren Mitgliedern ferne halten 
können. Es handelt sich in den letzteren Fällen um Rechte der Kammern als solcher, nicht 
der einzelnen Mitglieder. 
1) v. Seydel, Staatsrecht 1 S. 364 ff., 395 ff., Verh. d. K. d. Abg. 1897/98 St. B. Bd. X 
S. 834 tübereinstimmende Regierungserklärung), unrichtig S. 829. 
2) Durch § 77 der R. V. wird das Beschwerderecht nach Tit. VII § 21 der bayer. Verf Urk. 
nicht eingeschränkt; vgl. Verh. d. R. d. Abg. 1895/96 St.B. Bd. VIII S. 215 ff.
	        
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