316 I. 3. Preußens Erhebung.
der weite Blick und die stolze Selbstgewißheit unseres ersten Dramatikers
blieben dem Unglücklichen versagt; ein friedloser Sinn störte ihm das Eben-
maß der Seele. Kaum beachtet von den Zeitgenossen, durch ein räthselhaft
grausames Schicksal um alle Freuden eines reichen Schaffens betrogen, er-
scheint er uns Rückschauenden heute als der eigentlich zeitgemäße Dichter
jener bedrückten Tage, als der Herold jenes dämonischen Hasses, den fremde
Unbill in die Adern unseres gutherzigen Volkes goß. Die Penthesilea war
die wildeste, das Käthchen von Heilbronn die zarteste und holdeste unter den
dämmernden Traumgestalten der deutschen Romantik, die Hermannsschlacht
aber ein hohes Lied der Rache, eine mächtige Hymne auf die Wollust der
Vergeltung — jeder Zug ebenso sinnlich wahr, anschaulich, lebensvoll wie
einst Klopstock's Bardengesänge unbestimmt und verschwommen gewesen,
jedes Gefühl unmittelbar aus dem Herzen der rachedürstenden Gegenwart
heraus empfunden. Kleist hatte sich nicht, wie die patriotischen Gelehrten,
die Idee des Vaterlandes erst durch Nachdenken erwerben müssen; er
empfand den naiven, naturwüchsigen Haß des preußischen Offiziers, er
sah die alten glorreichen Fahnen, die sein und seines Hauses Stolz ge-
wesen, zerrissen im Staube liegen und wollte den züchtigen, der ihm das
gethan. Ueberall wohin der Unstete seinen Wanderstab setzte verfolgte ihn
wie der Ruf der Erinnyen die wilde Frage: „stehst du auf, Germania?
ist der Tag der Rache da?"“ Stürmisch, furchtbar wie noch nie aus eines
Deutschen Munde erklang von seinen Lippen die Poesie des Hasses:
Rettung von dem Joch der Knechte,
Das aus Eisenerz geprägt,
Eines Höllensohnes Rechte
Ueber unsern Nacken legt!
Es war dieselbe unbändige Naturkraft der nationalen Leidenschaft,
wie einst in den wilden Klängen des Marseillermarsches, nur ungleich
poetischer, wahrer, tiefer empfunden. Nachher schuf der unglückliche Dichter
in dem Prinzen von Homburg das einzige künstlerisch vollendete unserer
Historischen Dramen, das seinen Stoff aus der neuen, noch wahrhaft
lebendigen deutschen Geschichte herausgriff, die schönste poetische Verklärung
des preußischen Waffenruhms. Als auch dies Werk an den Zeitgenossen
spurlos vorüberging und die Lage des Vaterlandes sich immer trauriger ge-
staltete, da starb der Ungeduldige durch eigene Hand — ein Opfer seiner
angeborenen krankhaften Verstimmung, aber auch ein Opfer seiner finsteren
hoffnungslosen Zeit. Es bezeichnet den großen Umschwung des nationalen
Lebens, daß jetzt ein Mann aus den alten brandenburgischen Soldaten-
geschlechtern mit der ganzen Farbenpracht der neuen Dichtung dies preu-
ßhische Soldatenthum verherrlichte, das so lange, verständnißlos und unver-
standen, der modernen deutschen Bildung fern geblieben war. Wie lebhaft
betheiligte sich doch nunmehr das starre trotzige Junkerthum der Marken
an dem geistigen Schaffen der Nation: eine lange Reihe seiner Söhne,