Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

62 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
Zwischen Frankreich und Rußland ward die Kluft mit den Jahren 
immer breiter, obgleich die erstarkende altmoskowitische Partei am Peters- 
burger Hofe ein Bündnis der beiden Mächte gegen Deutschland dringend 
wünschte, und der Zar seinem preußischen Vertrauten Oberst Rauch oft 
gestand: außer mir selbst sind nur noch Nesselrode und Orlow aufrichtige 
Freunde der deutschen Allianz. Noch immer wollte Nikolaus sich nicht ent- 
schließen, dem französischen Thronräuber zu verzeihen; er fand es schamlos, 
daß Ludwig Philipp nach der Geburt seines Thronerben, des Grafen von 
Paris, von der Fortdauer seiner Rasse zu reden wagte, und konnte sich 
den ruhigen Schritt der preußischen Politik, die in Wahrheit von dem 
alten Könige selbst geleitet wurde, nur aus der Schwäche Ancillons — 
„Monsieur Vacillants““ — erklären. Halsstarrig blieb er bei seiner alten 
Meinung, daß der Weltkrieg gegen den Staat der Revolution noch kommen 
müsse. Die Lage Preußens malte er sich in den dunkelsten Farben, weil 
er sie also sehen wollte und immer noch mit der Hoffnung spielte, seine 
formidable russische Reserve würde dereinst die Deutschen aus den Klauen 
der Jakobiner retten. Während des Kölner Bischofsstreites erkannte er 
sogleich, daß Osterreich sich nicht als ehrlicher Freund Preußens zeigte, 
und meinte: nun werde Frankreich den günstigen Augenblick benutzen, 
um den Krieg alsbald auf dem rechten Rheinufer zu eröffnen. Das 
alles, so beteuerte er heilig, sagte er nur „aus kindlicher Verehrung für 
den geliebten Vater“. Rauch aber erwiderte stolz: kommt der Krieg, so 
werden wir selbst die Angreifer sein.) Unablässig, und in immer schärferem 
Tone wiederholte der Zar seine Beschwerden über die Umtriebe der pol- 
nischen Propaganda; mehrmals befahl er seinem Botschafter, Paris auf 
längere Zeit zu verlassen. Seine Ungezogenheit wurde so widerwärtig, 
daß Ludwig Philipp verzweifelnd ausrief: „ich werde mir meine Verbün- 
deten anderswo suchen.“ 
Als der alte König dies erfuhr, ließ er seinem Schwiegersohne sagen: 
„Ludwig Philipp hat zum öfteren die Neigung gezeigt, sich den Kon- 
tinentalmächten zu nähern und in ihrem Sinne zu handeln. Solange 
indessen der Kaiser seine Antipathien gegen ihn nicht zu überwinden im 
stande ist und sich hierüber unverhohlen, ganz offen, ausspricht, so lange 
wird auch auf Ludwig Philipp wenig zu rechnen sein und er allerdings an- 
dere Alliierte suchen müssen. Wollte der Kaiser aber an seiner vorgefaßten 
Meinung in etwas nachlassen, so wäre es auch ein großer Gewinn für 
die konservative Partei.“**“) Die Mahnung fand taube Ohren. Der Zar 
fuhr fort, dem Bürgerkönige bei jeder Gelegenheit seine Mißachtung zu 
zeigen, bis dieser endlich einen tiefen persönlichen Haß gegen den unver- 
söhnlichen Peiniger faßte. Nach Nikolaus' Meinung war Frankreich schlecht- 
  
*) Rauchs Bericht, 26. Dez. 1837. 
*“) Rauchs Bericht, 23. Juli 1837, nebst Randbemerkung des Königs.
	        
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