4 Aus der Vorgeschichte des Krieges
deutsch, im Kulturgefühl wurde es von deutschen und französischen Einflüssen
gespeist, in der politischen Denkart war es Frankreich verwandt und im
Bau ein Stück Frankreichs geworden.
Für Frankreich bedeutete aber die Abtretung Elsaß-Lothringens niche
mr eine Minderung an Macht und Volkstum, eine Einbuße an militärischer
Kraft und eine Verschlechterung seiner Ostgrenze, sondern auch einen politi-
schen Verlust (1). ) Die Darfache, daß aus dem kunstvollen Gebäude des
politischen Einheitsstaates ein Stück herausgebrochen worden war, erschien
den Franzosen als eine Verlehung ihres Staatsideals. Dieser Gedanke
belebte den Wunsch nach Wiederherstellung der alten Rheingrenze stets
aufs neue und hat Frankreich nicht schlafen und es den Krieg von 1870
nicht vergessen lassen. Das Bewußtsein dieses geschichtlichen Verlustes hat
die Policik der französischen Republik während vierundvierzig Jahren
unverrückbar bestimmt. Es gab Zeiten, da man den Werlust im Dunkeln
ließ, Zeiten, in denen man ihn in Worte faßte und mit dem banalen Ruf
„Revanche“ über die Grenze sandte — verschmerze war er nie. Dazu
trat das brennende Gefühl, besiegt worden zu sein. Der französische
Nationalskolz hat, abgesehen vom Verlust Elsaß-Loehringens, die Nieder.
lage an sich nie verschmerzt und nie vergessen.
Die französische Republik hat sich nach dem Kriege von 1870 trogß der
unerhörten Opfer, die das Endringen gefordert hatte, rasch und kraftvoll
wieder zur Höhe emporgeschwungen, hat Welt. und Machtpolitik getrieben,
ungeachtet schwindender Volksfruchtbarkeit ein Kolonialreich von unbe-
grenzter Enewicklungsfähigkeit errichtet, im Grund aber alles dem einen
Leitgedanken dienstbar gemacht, dem Gambetta die denkwürdigen Worte lieh:
„Toujours 7 penser, jamais en parler.“ Gerade der Umstand, daß das
napoleonische Frankreich im Jahre 1871 als Republik aus dem unglücklichen
Krieg mit Deutschland hervorging, hat die Abtremung Elsaß-Lochringens
so tief empfinden lassen und der Revanchepolitik einen idealen Inhalt ge-
geben. Nicht nur um Elsaß-Lothringens willen, sondern vielmehr weil die
Republik — la république une et indivisible — sich dadurch in ihrer idealen
Unverlehlichkeit gekränkt fühlte, hat Frankreich unentwegt die Hoffnung auf
die Wiedereroberung der beiden Provinzen genährt. Aus den Grundsäten
und Errungenschaften der großen Revolution leiteten die Franzosen auch
ein moralisches Recht auf die Reichslande ab, deren politische Enewicklung
durch den Heimfall an das Deutsche Reich zurückgeschnitten wurde und
nur stockend nachwuchs. Solange die politischen Rechte der Elsaß-Lothringer
geringer waren als die der französischen Staatsbürger — die völlige Ver-
schiedenheit der Verhältnisse tat nichts zur Sache — und Elsaß-Lothringen
nicht als neues, ebenbürtiges Glied in die Reihe der deutschen Bundesstaaten
5) Siehe Anhang.