England und Deutschland 9
die Schaffung einer Koalition gegen die kontinentale Vormacht ausgegangen
und hatte dabei stets seine Rechnung gefunden.
Oas Interesse Englands war und ist immer und eindeutig das Interesse
des britischen Imperiums. Dieser Imperialismus sieht stets — eine Folge
jahrhundertelanger Schulung — die Dinge vom insularen Standpunkt aus.
Aus dieser llaren, egozentrischen Auffassung britischer Staatspolitik floß
seit Generationen die einheitliche Betrachtung aller europäischen und uni.
versellen Fragen, einerlei, ob es sich um Handelsverträge, um Ausbreitungs.
versuche anderer Mächte in Afrika und Asien, um die orientalische oder
persische Frage oder um die Sprengung oder Unterstützng festländischer
Bündnisse und Gruppierungen handelte. Der Staatsegoismus, der sich
darin bekundete, ist von jeber das sichere Grundgefühl der britcischen Staats-
kunst gewesen und hat vielleicht zu einer starken Einseitigkeit, sicher aber
auch zu einer festgefügten Grundsählichkeit der britischen Politik geführt.
Oeutschland hingegen war in seiner politischen Strategie auf „ein
System von Ausbilfen“ angewiesen, die ihm gestatten sollten, zwischen den
bereies verankerten russischen, französischen und englischen Weltinteressen
für ein eigenes deutsches Interesse Grund zu suchen und sich den „Plag an
der Sonne"“ zu sichern. Ihm fehlte dabei im Gegensag zu den Angelsachsen
eine feste #berlieferung und jegliche Erfahrung, auch stieß es fast Überall auf
glückliche Besiger oder ältere Anwärter und Miebewerber. Es fand nie die
nötige Rückenfreiheit zur Einhaltung einer folgerichtigen, bestimmten Grund-
gesetzen geborchenden Weltpolitik. Unter dem Zwange dieser Umstände setzte
Deutschland an die Stelle der Politik der freien Hand zuweilen die Politik
der gepanzerten Faust, ohne indes aus der schreckenden Gebärde heraus-
zutreten oder den europäischen Frieden aus dem Gedanken an Krieg, an
die FVortsegung der Politik mit gewaltsamen Miteteln, zu bedrohen. Das
gab der deutschen Staatskunst nach außen etwas Unsicheres, scheinbar Un-
berechenbares und setzte sie weiteren gefährlichen Vorurteilen aus (4).
Bismarck, der letzte große Staatsmann, der in Europa die Welt be-
griff und diese europäische Welt beherrschte, hat noch keine Weltmacht.
politik im modernen Sinne betrieben. Er hat selbst in seiner großzügigen
europäischen Policik die deutschen Interessensphären so nach den Bedürf.
nissen der Zeit und der Umstände abgegrenzt, daß er noch im Jahre 1888
für die Lösung gewisser Balkanfragen nicht die Knochen eines einzigen
vommerschen Grenadiers opfern wollte. Dadurch entging er dem Zusammen-
stob mit Rußland und der Auseinandersetzung mie England.
Die Entwicklung ist darüber hinweggeschritten. Im Jahre 1914 hat
sich der europäische Krieg an der Balkanfrage entzündet, und deutsche
Soldatengräber wurden von den Karpathen bis Podolien und Wolhynien,
in Serbien, Rumänien und Mazedonien gehäuft und schmiegten sich ktief
in die Hügelfalten der Landzunge von Gallipoli und die Sanddünen von Suez.