Die europäischen Vündnisse 25
solcher überhaupt nicht gehandelt, da Italien als Verbündeter der Mittel-
mächte dem Streit ferngeblieben war und eine Sonderstellung bezogen hatte.
Am 4. Dezember 1908 hatte der Minister des Außern, Tictoni, in der
Kammer erklärt, daß Osterreich-Ungarn durch seine einseitige, ohne Zu.
stimmung der Berliner Signatarmächte vorgenommene Lösung der bos.
nischen Frage eine schwierige und ungewisse Lage geschaffen habe. Diese
wirke auf die innere Politik anderer Mächte zurück und störe die Politik
Staliens. Aus diesen Worten sprach der verborgene Gegensatz der öster.
reichisch-ungarischen und italienischen Balkanpolitik. Italien fühlte sich durch
die ganze Balkanpolitik Osterreichs, besonders dessen Eisenbahnpläne, die
auf Schaffung einer Linie Serajewo—Saloniki ausgingen, und mehr noch
durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina in seinen Interessen und
Hoffnungen tief verletzt und handelte danach. Ein firstlicher Besuch ließ
dies deutlich erkennen. Am 23. Oktober 1909 empfing König Viktor Emanel
in RSacconigi den Besuch des Zaren, der auf der Hin- und Rückreise vermied,
das Gebiet der Donaumonarchie zu berühren.
In dem alten piemontesischen Lustschlosse fand eine eingehende Be-
sprechung der russischen und italienischen Staatsmänner statt. Die Gemein-
samkeit der russischen und italienischen Interessen auf der Balkanhalbinsel
wurde geflissenelich hervorgehoben, und Iswolski, der sich als Botschafter
hatte nach Paris verseßzen lassen, nahm Gelegenheit, einem Mitarbeiter
des „Temps“ ausdrücklich zu sagen: „Die Erhaltung des bestehenden Zu-
standes und die Entwicklung der Autonomie der Balkanstaaten ist unser
gemeinsames Ziel.“ Mit einem Schlage wurde offenbar, daß auch zwischen
Rom und PDetersburg starke Fäden gesponnen waren.
Da Italien schon von Algeciras und noch länger her durch lebendige
Interessen an England gefesselt war, so erschien der Dreibund innerlich ge-
lockert und insbesondere das Bundesverhältnis Italiens zu Osterreich —
die kälteste aller politischen Bernunftehen — vollends brüchig geworden.
Der Dreibundvertrag ist von Bismarck immer nur als ein politisches
Aushilfèmittel, nicht aber als eine bequeme Sichgelegenheit flr die Zukunfe
betrachtet worden. Zwei Worte von ihm kennzeichnen die Auffassung, die
er von Italiens Rolle hatte. Er wollte verhindern, daß Italien die Donau-
monarchie „in die Beine beiße", wenn diese sich gezwungen sehen sollte,
den immer stärker nach Westen greifenden Ansprüchen Rußlands gegenüber.
zutreten, und er hoffte, daß Italien sich bereitfinden lasse, „einen Trommler
mit der italienischen Trikolore“ an die französische Alpengrenze zu stellen,
falls Deutschland gezwungen würde, noch einmal mit Frankreich das Schwert
zu kreuzen.
Sind politische Verträge nach einer Bismarckschen Begriffsbestimmung
„nur der Auödruck der Gemeinschaft in den Bestrebungen und in den Ge-
fahren, die die Mächte zu laufen haben“, so gilt dies von dem deutsch-öster-