Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Die europäischen Bündnisse 29 
eine Verständigung Rußlands und Deutschlands gedeutet, die bis zur 
Abschwächung des französisch-russischen Bündnisses gehe, diesem zum 
mindesten die gegen Deutschland gerichtete Spitze abbrechen sollte. Der 
deutsche Kanzler faßte das Ergebnis der Begegmung in folgende Säße: 
„Als Resultat der lechten Entrevue möchte ich bezeichnen, daß von 
neuem festgestellt wurde, daß sich beide Regierungen in keinerlei Kombination 
einlassen, die eine aggressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte. 
In diesem Sinne haben wir insbesondere Gelegenheit gehabt, zu konstatieren, 
daß Deutschland und Rußland ein gleichmäßiges Interesse an Aufrecht. 
erhaltung des Status quo am Galkan und Überhaupt im nahen Orient 
haben und daher keinerlei Politik untkerstützen werden — von welcher Seite 
sie auch kommen könnte —, welche auf Störung jenes Status quo gerichtet 
wäre.“ · 
Ob die Hoffnungen, die sich hier ankündigen, der Erfüllung reiften, 
mußte die Zukunft lehren. Datsächlich hat Rußland damals die Aufmerk. 
samkeit vom Balkan auf Persien abgelenkt, wo Deutschland ihm die politische 
Bahn freigab, sich selbst aber wirtschaftliche Bewegungsfreiheit sicherte. 
Da auch die an der Westgrenze Rußlands gehäuften russischen Truppen 
wieder nach dem Innern gezogen wurden, so schien Deutschlands und Oster- 
reich-Ungarns Lage in der Tat sehr erleichterkt worden zu sein. Eine grund- 
sägliche Abkehr Nußlands von seiner allgemeinen Politik war jedoch keines- 
wegs mit dieser Ablenkung verbunden. Vielmehr gewann die russische Re- 
gierung neue Druckmittel, die sie früher oder später geltend machen konnte, 
sei es, um die Mittelmächte künftigen Möglichkeiten geneigt zu stimmen, 
sei es, um England und Frankreich zu Zugeständnissen zu veranlassen. 
Schon damals spann das Jarenreich feine Fäden, die den Zweck hatten, 
auf dem Balkan einen Bund Serbiens, Bulgariens und Griechenlands zu 
schaffen. War dieser Balkanbund gefestigt und vom Zaren geweiht, so 
konnte er nach Maßgabe der WVerhälenisse als Sturmbock gegen die türkische 
oder die österreichisch-ungarische Flanke benußt werden. 
England nahm die Entspammung, die sich in Potsdam ankündigte, 
mit Befriedigung wahr, in Frankreich aber kamen sofort die Besorgnisse 
vor einem militärischen Abergewicht und einer Verstärkung des deutschen 
Druckes auf die französische Grenze zum Ausdruck, die der französische Kriegs. 
minister General Brun in erregte Worte goß. Das Pariser „Journal“ 
gab ihnen folgende scharfe Ausprägung: 
„Die russisch-französische Allianz besteht tatsächlich nicht mehr, weil 
das russische Heer durch die Wegverlegung bedeutender Truppemmassen von 
der Westgrenze seine Front gewechselt hat. Es ist nicht gut, sich darllber 
Vorspiegelungen zu machen. Das russische Heer hat künftig nicht mehr 
die Aufgabe, die Westkgrenze zu verteidigen. Sein etwaiger Gegner ist 
sicherlich nicht Deutschland.“
	        
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