Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Die europäischen Bündnisse 31 
Erst die Erkenntnis, daß Deutschland auf Teile von Marokko selbst 
keinen Anspruch erhob, entwaffnete England und beschränkte die Krise auf 
umschriebene Verhandlungen zwischen Frankreich und Deutschland. Diese 
schwebten noch, als in Petersburg das in Dotsdam besprochene deutsch 
russische Abkommen über Persien geschlossen wurde. Rußland brachte seine 
persische Ernte unter Dach, die Urkunde enthielt jedoch keine grundsägliche Ver- 
einbarung, die man als Wiederherstellung des alten deutsch-russischen Ver- 
trauensverhälenisses oder gar des Bigmarckschen Rückversicherungsvertrages 
häecte deuten kömnnen. Die Hotsdamer Blütenträume waren nicht zur Frucht 
gereift, Deutschlands politischer Erfolg ein Scheinerfolg geblieben. Die 
Näckendeckung, die ihm im neu erwachten marokkanischen Streitfall von 
großem Nüutzen gewesen wäre, war wirklich nicht mehr zu finden. 
Frankreich und England haben Deutschland den „Panthersprung“ nie 
vergessen. Zwar ist im Jahre 1913 aus langwierigen Verhandlungen 
eine Einigung hervorgegangen, die Deutschland eine Gebiekserweiterung in 
Westafrika brachte, wogegen das Deutsche Reich Frankreichs politische 
Vorherrschaft in Marokko anerkannte, aber die alte geschichtliche Gegner. 
schaft Frankreichs und Deutschlands war wieder bis auf den Grund auf- 
gewühlt worden. Und was hatte Deutschland mit dem „HPanthersprung“ 
bezweckt? — Nichts anderes als die Achtung vor dem in Algeciras ge- 
schriebenen Bertrag und die Behauptung der eigenen Stellung, zu viel, 
um Frankreich nicht zu reizen, zu wenig, um England den MRiesenkampf 
aufnehmen zu lassen, dessen Gewölk drohend am Horizont sichebar geworden 
war. Aber die Zersetzung des europäschen Friedenszustandes griff nun rasch 
weiter um sich. Die Durchlöcherung der Algecirasakte war das Zeichen für 
Italien, die ihm von England und Frankreich zugesicherten Ansprüche auf 
Tripolitanien wahrzunehmen. Am 29. September 1911 erklärte es der Dürkei 
den Krieg und besetzte am 5. Oktober Tripolis und die Cyrenaika. Deuesch- 
lands Freund war von Deutschlands Verbündeten um den letzten afrikanischen 
Besig gebracht worden, und Deutschland mußte auch dies hinnehmen. Immer 
deutlicher wurde das Rieseln hinter den Wänden des europäischen Friedens. 
gebäudes, bekannte Verträge und Bündnisse begannen zu bröckeln und zu 
schwinden, unbekannte sich zu bilden, das politische Leben wurde von einer 
allgemeinen Unsicherheit ergriffen, dem nur noch durch die Friedensliebe 
der VBölker und den Friedenswillen des Deutschen Kaisers entgegengewirkt 
werden konmte. 
Der Zerfall des europäischen Konzertes 
Es ist ein Berdienst Kaiser Wilhelms II., im Jahre 1911 den WVer. 
suchungen widerstanden zu haben, die an ihn herantraten, als es galt, 
Krieg und Frieden gegeneinander abzuwägen. Die milicärische Lage Deuesch-
	        
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