Die Stellung der Mächte zur Kriegsgefahr 45
bewußt war und daß es von Serbien eher ein Nein als ein Ja erwartete.
Die erste politische Frage aber war, wie sich Rußland zu dem Streitfall
stellte und wie weit der Zar zu gehen gedachte.
Ließ Rußland Serbien allein, so war mit einem Straffeldzug Osterreich.
Ungarns über die Donau zu rechnen, wenn Serbien sich weigerte, das Ulti—
matum zu erfüllen. Trak Rußland an Serbiens Seite, so drohte ein euro-
päischer Krieg, falls nicht eine Bermittlung Platz griff. In welchem Um-
fang ein Krieg drohte, ob zwischen Zweibund und Dreibund oder zwischen
Dreibund und Dreiverband, mochte je nach den Amständen noch zweifelhafe
erscheinen, im Grunde aber hatte die weltpolitische Entwicklung diese Zweifels.
frage längst gelöst, obwohl Grey noch in einem Schreiben an den britischen
Botschafter in Wien vom 23. Juli als äußerste Möglichkeit einen Krieg der
vier Großmächte Osterreich, Frankreich, Rußland und Deutschland ins
Auge faßte (19), also bezeichnenderweise von Italien als Dreibundmacht
keine Einmischung besorgte und Englands Rolle noch im Dunkeln ließ.
Junächst lag die Enescheidung bei Serbien selbst. Als Serbien Rußland
um Beistand anging, der von Petersburg sofort zugesogt wurde, war das
Schwergewicht der Lage mit einem Ruck nach Petersburg verschoben (20).
Der serbisch-österreichische Streitfall war zu einem österreichisch-russischen
Handel geworden, und nun verdichtete sich die Angelegenheit zu der Frage,
ob daraus mie Notwendigkeit ein europäischer Konflikt hervorgehen mußte.
Rußland war in der Tat diesmal nicht gesonnen, zurückzuweichen wie
im Jahre 1908, als die Einverleibung Bosniens erfolgte, und wie im Jahre
1912, als der Einspruch Osterreich-Ungarns Serbien um Ourazzo und
Montenegro um Skutari brachte. Es handelte sich jetzt darum, Osterreich-
Ungarn jede Bedrohung Serbiens zu verwehren und das Machtgebot
Rußlands am Balkan mit einem Schlage zum entscheidenden zu machen.
Daran hing Rußlands Orientstellung, die nach der Umlenkung seiner Polieik
von Ostasien nach dem nahen Osten wieder zur Grundlage der russischen
Enewicklung geworden war.
Zu einem tatkräftigen Einschreiten wurde Rußland diesmal durch
die Vervollständigung seiner Rüstungen, den engeren Zusammenschluß des
Dreiverbandes und die Lockerung des Dreibundes befähigt, Amstände, die
die Stärkeverhältnisse zu seinen Gunsten verschoben hatten. Schrieb man
auch noch nicht 1917, so war doch die Kriegsbereitschaft so weit vorgeschritten,
daß man sich befähigt hielt, mit Frankreich und England im Bunde den
Kampf aufzunehmen.
Der europäische Friede wog federleicht in der Wage des Geschicks.
Deutschland konnte ein bewaffnetes Einschreiten Rußlands in einen öster-
reichisch-serbischen Streitfall nicht zugeben, ohne seine eigene Existenz zu
untergraben. Es war daher nicht in der Lage, den Frieden zu verbürgen.
Anders England. Ließ sich Rußland zu bewaffnekem Einschreiten hinreißen,