46 Aus der Vorgeschichte des Krieges
die drohende europäische Verwicklung von dem Grafen Berchtold in ihrer
vollen Schwere eingeschätzt worden ist.
Wierundzwanzig Stunden nach der A#bergabe der Note rief Serbien
zu den Fahnen. Die russische Regierung hatte ihm den Rücken gestärkt
und Zusicherungen gegeben, von deren Wert Serbien, als Rußlands stärlste
Figur auf dem Walkan, diesmal in beiderseitigem Interesse überzeugt sein
durfte. Die Detersburger Zusicherungen gestatteten den Serben, die
drückendsten Forderungen abzulehnen und die Antwort so zu halten, daß
Osterreich sie als ungenügend ansah und einen Teil seiner Armee gegen
Serbien mobil machte. Vom 25. Juli an befand sich ÖOsterreich-Ungarn
mit Serbien im Kriegszustand, am 28. Juli erfolgte die Kriegserklärung an
die serbische Regierung, ohne daß sofort oder in den nächsten Tagen ein
bewaffnetes Einschreiten erfolgk wäre (22).
Schon am 23. Juli tauchte in den Kabinetten die Erwägung auf, daß
man einem allgemeinen Kriege zutreibe. Diesem Gedanken gab Grey in
seinem Schreiben vom gleichen Tage an den britischen Botschafter in Wien
besonderen Ausdruck, ohne aber auf die Entwicklung im friedenfördernden
Sinne richtig einzuwirken. Obwohl ihm der österreichische Botschafter
Graf Mensdorff erklärt hatte, daß es sich um einen österreichisch= serbischen
Streitfall handelte und alles von Rußland abhinge, wandte sich Grey
weder nach Paris noch nach Petersburg, um dort seinen Einfluß mit dem
nötigen und ihm voll zu Gebote stehenden Ansehen zu Gewicht zu bringen.
Er war innerlich unfrei und stand bereies unter dem Zwang der von ihm
mitgeschaffenen Verhälenisse.
Während Osterreich-Ungarn harknäckig auf seinen Forderungen stehen
blieb, die es nicht zum Gegenstand von Verhandlungen und Kompromissen
machen könne (23), ersuchte Deutschland die Mächte des Dreiverbands, die
Zwangslage zu würdigen, in die- Osterreich durch die großserbische Propa-
ganda verseht worden war, und betonte, daß es sich um eine Angelegenheit
handle, die lediglich zwischen Osterreich und Serbien zum Austrag zu bringen
sei (24). Die deutsche Staatsleitung wünschte, wie aus ihren unablässigen
Bemühungen hervorgeht, tatsächlich und aufrichtig die Begrenzung des
Zusammenstoßes und wollte ihn als österreichisch-serbische, nicht aber als
österreichisch-russische und noch weniger als europäische Angelegenheit be-
bandelt wissen. Das war eine formal logische Behandlung des Streitfalles,
die der Sachlage an sich gerecht zu werden versuchte, angesiches der politischen
Interessenverflechtung aber nicht mehr genügte, um den Sereit auf eine
serbisch. österreichische Auseinandersetzung zu beschränken.
Deutschlands Bemühungen waren durch die gefährliche Lage, in die das
Reich geraten war, wohlbegründet. Sie scheiterten an der Auffassung Ruß-
lands und mehr noch an den Staatshandlungen, durch die Rußland seiner
entgegengeseczten Auffassung Ausdruck lieh (25). Rußland war nicht Serbiens