Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Kaiser und Zar 53 
fordernde Handlung vornehmen würden, solange die Verhandlungen mit 
Osterreich über Serbien andauerten. Zugleich gibt der Zar der Hoffnung 
auf den Erfolg der Vermittlung des Kaisers in Wien Ausdruck (41). Mit 
diesem Telegramm kreuzte sich Wilhelms letzte Aufforderung, den Frieden 
zu wahren. Das Schriflstück war in voller Erkenntnis der Lage abgefaßt, 
soweit es sich um den drohenden Krieg der Festlandstaaten handelte, 
und überband dem Jaren die Verantwortung für den ausbrechenden Wele- 
krieg. Zugleich wurde in Deutschland als Vorläufer der Mobilmachung 
der Zustand der drohenden Kriegsgefahr verkündet (42). 
Zwei weitere Telegramme, die schon das Brausen des WVolkssturms 
verschlang, ließen erkennen, daß die russische Mobilmachung unwiderruflich 
war und den Auftakt zum europêischen Krieg gebildet hatte. Die in Be- 
wegung geratenen militärischen Kräfte waren nicht mehr aufzuhalten. 
Kaiser Wilhelms lechte Botschaft an den Jaren ist ohne Antwort ge- 
blieben, auch der Draht zwischen den Herrschern war abgerissen. Kaiser 
Nikolaus war nicht mehr stark genug gewesen, dem Druck zu widerstehen, 
den die panslawistische Masse, die wie ein wandernder Berg in Bewegung 
geraten war, auf ihn ausübte. Seine schwachen Schultern gaben nach. Ein 
Stärkerer meisterte die Entwicklung. Großfürst Nikolai Nikolajewitsch 
fübrte Rußland in den Krieg, in dem es sich von seinen ostasiatischen Nieder= 
lagen erholen, von inneren Krankheiten genesen, Deutschland überschatten 
und auf Österreich--Ungarns Trümmern zum Schiedsrichter des Balkans 
und Europas heranwachsen sollte. Konservative und Liberale, die ganze 
russische Intelligenz und dos Heer erwarteten von diesem Krieg einen neuen 
Aufstieg Rußlands. 
Das Eingreifen Kaiser Wilhelms konnte den Krieg nicht mehr bannen; 
die kaiserlichen Briefe und Beschwörungen sind Gewissensakte einer von 
Verantwortlichkeit erfüllten und gecragenen Persönlichkeit, die zu handeln 
und zu bekennen verlangte. Die Briefe des Zaren sind von blasserer Schrift. 
Auch Nikolaus II. hat den Frieden gewollt, aber ihm fehlte Kraft und 
Wille, die Politik seines Landes von Anfang an zu bestimmen, und die 
Möglichkeit, das Steuer zu wenden — die von äußeren und inneren Kräften 
getriebene geschichtliche Entwicklung und persönliche Einflüsse stärkerer 
Naturen führten ihn in den Krieg. 
So wurden im größten aller Kriege zwei Fürsten einander gegenüber. 
gestellt, von denen der eine troh der Beweglichkeit seines reichen Geistes 
und einer gewissen Sprunghaftigkeit seiner Politik stets die friedliche Ene. 
wicklung seines Reiches gepflegt und kraftvoll gefördert und dadurch den 
Welefrieden erhalten hatte, der andere, lenksamer und unfreier NRatur, den 
Frieden noch durch symbolische Handlungen und die Anbietung eines Schieds. 
gerichts unker dem Drucke der Mobilmachung zu sichern geglaubt hatte, 
während seine Umgebung schon die Minen springen ließ.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.