Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Deutschlands Verhandlungen mit den Westmächten 55 
habern den Rücken zu stärken. In diesem Sinne hat die Bemerkung Greys, 
daß England im Falle eines deutsch-französischen Zusammenstoßes nicht 
beiseite stehen werde, offensichtlich auch gewirkt. Entweder war die Indis- 
kretion Greys also ein Fehler, der der französischen Diplomatie Beranlassung 
bot, Rußland über die Anschauung des englischen Kabinetts zu verständigen 
und selbst die Zusicherung der britischen Waffenhilfe zu fordern, oder eine 
bewußte WVerschlimmerung der Verwicklung, um Deutschland in den Drei- 
frontenkrieg zu verstricken. 
In GBerlin erfolgte am 29. Juli eine noch wichtigere Unterredung. 
Der Neichskanhzler ließ den britischen Botschafter abends zu sich bitten, um 
eine Verskändigung mit England zu suchen und dadurch den Westen in mehr 
oder weniger begrenztem Maße sicherzustellen. 
Wir besigßen über diese wichtige Unterredung ein englisches Zeugnis, 
den Beriche Goschens an Grey, der im Blaubuch abgedruckt ist und möglichst 
genau wiedergegeben sei. Der NReichskanzler eröffnete danach dem eng- 
lischen Botschafter, es sei Uar, daß England nicht nebenaus stehen und 
nicht erlauben werde, daß man Frankreich zerschmettere. Für die Gewißheit 
der englischen Neutralität will daher Deutschland das Persprechen geben, 
keine territorialen Erwerbungen auf Kosten Frankreichs nach einem glück. 
lichen Krieg zu machen. Auf die Frage Geoschens, ob sich die Integrität auch 
auf die französischen Kolonien beziehe, kam der Reichskanzler nicht die 
gleiche Versicherung geben. Hollands Integrität und Neutralität werde 
Deutschland so lange respektieren, als seine Gegner das täten. Ob Deutsch. 
land gezwungen werde, belgischen Boden zu betreten, hänge von dem Vor- 
gehen (action) Frankreichs ab. Wenn Gelgien nicht gegen Deutschland 
Stellung genommen habe, werde nach dem Krieg seine Integrität respek.- 
tiert. Der Kanzler vertraue darauf, daß diese Versicherungen die Grund. 
lage der Verständigung mit England bilden mögen, eine Verständigung, 
die immer das Ziel seiner Dolitik gewesen sei. Er habe ein allgemeines 
Neutralitätsabkommen mit England im Sinn, und eine Neutralitätserklärung 
in dem gegenwärtigen Konflikt liege auf dem Wege zu diesem Ziele (40). 
Oiese Unterredung leitete die englisch-deutschen Verhandlungen über 
die französische, die englische und die belgische Meutralität ein, drei Ver- 
bandlungsgegenstände, die unter sich mehr oder weniger zusammenhingen, 
über die aber in dieser Anterredung nach keiner Seite endgültig eneschieden 
wurde. In Frage stand zunächst die Haltung Frankreichs und Englands, 
die belgische Frage blieb nur mittelbar an die Beantwortung dieser Haupt- 
fragen gebunden. Deutschlands Angebote zur Erreichung der französischen 
und englischen Neutralität bildeten den Kern der Unterredung. Dieser 
Kern war entwicklungsfähig, wenn England sich zu Unterhandlungen herbei- 
ließ. Er konnte auch rasch zu einem festwurzelnden Abkommen werden. So 
boffte man wenigstens noch in Berlin, als Sir Edward Grey schon Gegenzüge
	        
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