Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

56 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
tat, statt die Unterredung als Aus gangspunkt von Unterhandlungen 
zu betrachten. 
Der 29. Juli ist also der kritische Tag, an dem inhaltlich über Krieg und 
Frieden entschieden worden ist, und zwar nicht nur über den Kriegsfall als 
solchen, der von Rußland aufgestellt wurde, als es die serbische Sache zu 
seiner eigenen machte, sondern auch über die Ausdehnung des Krieges auf 
die beiden großen Machtkomplexe. Mit dieser Frage beschäftigte sich bereits 
eine Nachtsitzung des französischen Kabinetts, um den Bündnisfall und 
den Eineritt in die allgemeine Mobilmachung zu erwägen, nachdem schon 
Teilvorbereitungen getroffen worden waren, doch scheint es noch nicht 
zu Ausführungsbeschlüssen gekommen zu sein, da Rußland deren Dring- 
lichbeit nicht glaubhaft machen konnte. 
Am 30. Juli war die allgemeine Verwicklung bis zur Aufstellung einer 
russischen Formel gediehen, die Sasonowm dem deutschen Botschafter in 
folgender Fassung vorlegte: 
„Wenn Osterreich, indem es anerkennt, daß die österreichisch. 
serbische Frage den Charakter einer europäischen Frage an- 
genommen hat, sich bereit erklärt, aus seinem UAltimatum die 
PDunkte zu entfernen, die die souveränen Rechte Serbiens an- 
tasten, verpflichtet sich Rußland, seine militärischen Vor- 
bereitungen einzustellen“ (47). 
Es war ein UAltimatum, das von Osterreich-Ungarn die Anterwerfung 
unter die russische Anschauung verlangte und unter der Bedrohung durch 
die allgemeine Mobilmachung erfolgte. Es war zugleich ein Ansinnen an 
die deuesche Regierung, das von dieser ebenfalls den WVerzicht auf ihre 
politische Auffassung des österreichisch-serbischen wie des österreichisch. 
russischen Sereitfalles verlangte und ihr wiederum — darin waren die Oiplo- 
maten der Verbandsmächte einig — die Zumutung stellte, den Bundesfreund 
diplomatisch zu entwaffnen und zu demütigen. Deutschland lehnte diesen 
Vorschlag ab. Inzwischen nugte der französische Ministerpräsident Viviani 
die durch Cambon übermittelte Andeutung Greys, daß England in einem 
deutsch-französischen Kriege nicht beiseite stehen würde, aus und erklärte 
Zwolski, daß Frankreich entschlossen sei, alle seine Bundespflichten zu er- 
füllen. Desgleichen kat der französische Botschafter in London, indem er 
Sir Edward Grey eröffnete, daß nun der Augenblick gekommen sei, den 
Bündnisfall Englands festzustellen, den man in dem Briefwechsel vom 22. 
und 23. November 1912 umschrieben habe. Cambon verlangte von Grey 
zu erfahren, was England im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich 
zu tun gedächte (48). 
Begrifflich bestimmte Cambon einen deutschen Angriff (agression) 
sehr weit, indem er ausführte, daß dieser „Angriff“ die Form einer Forderung 
annehmen könnte, wonach Frankreich seine militärischen Vorbereitungen
	        
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