Vom Bruch und vom Mißbrauch der belgischen Neutralität 63
hatte Belgien nur die Wahl gelassen, die Waffen gegen Deutschland zu
erheben oder sich England und Frankreich zu Feinden zu machen. Beigien
hatte indes schon von sich aus Widerstand geleistet. Der bewaffnete Wider-
stand war nicht nur sein sittliches Recht und seine völkerrechtliche Pflicht,
sondern wurde ihm alsbald auch von den Schützern seiner Neutralität auf.
erlegt (67).
Während Luxemburg sich mit einem feierlichen Einspruch gegen eine
Verlehung seines Staatsgebietes begnügte, die Deutschland ebenfalls mit
militärischen Notwendigkeiten begründete, rief Belgien nun die Garantie.
mächte England, Frankreich und Rußland gegen Preußen-Deutschland an
und griff zur nachdrücklichen Gegenwehr ans Schwert, um sich zu verteidigen
und damit zugleich seine Aufgabe im gemeinsamen Feldzugsplan der West-
mächte zu erfüllen (68). ·
Der Deutsche Reichskanzler hat in der Sitzung des Reichstages vom
4. August 1914 die Schuld, die dieser Bruch der belgischen Neutralität
darstellte, auf Deutschlands Schultern übernommen. Er hat ausdrüclich
erklärt, daß die Betretung luxemburgischen und belgischen Gebietes den
Geboten des Völkerrechtes widerspreche und sich auf die Not berufen, in
der sich Deutschland in dem Kampf um sein Höchstes befinde. Er hat die
Gewissensnot, aus der sich die deutsche Staatsleitung damals zum Einge-
ständnis ihres Unrechts durchkämpfte, im Angesicht der Volksvertretung
und vor der Geschichte ausdrücklich bekannt (69).
Offenbar stand die Regicrung vor der verzweifelten Aufgabe, einen
Feldzugôplan politisch zu verereten, der nach dem Scheitern der deutsch-
französischen und der deutsch-englischen Derhandlungen zur Sicherstellung
der Westgrenze als der einzig beilbringende betrachtet und in Vollzug gesetzt
wurde. Und zwar überwogen die aus der militärischen Betrachtung der
Notlage fließenden Gründe die politischen Bedenken und die völkerrechtlichen
Erwägungen derart, daß der Staatsleitung niches übrigblieb, als das Er.
gebnis hinzunehmen und die Verantwortung auf sich zu laden. Sie fügte
sich der Strategie, die ihrerseits die Imponderabilien, die auch bei der „Fort-
setzung der Dolitik mit anderen Mitteln“ schwer ins Gewicht fallen, zur
Seite schob und zur Dar schritt.
Sie begnügte sich nicht mit einer Aufskellung an der Grenze oder einer
Bedrohung, die dem Gegner den ersten Schritt ablockte, sondern gehorchte
einem Plone, der verlangte, daß der Gegner des geringsten Worsprungs
in dieser Hinsicht beraubt werde, und löschte die Unterschrift Preußens
unter dem belgischen Garantievertrag, die das Deutsche Reich niche zurück-
gezogen hatte, mit Blut. Belgien und die belgische Neutralität, die in
den Jahren 1830 und 1839 zugunsten und zur gegenseitigen Sicherung der
Westmächte geschaffen worden waren, find Deutschland zum Verhängnis
geworden. Es sah sich dadurch der vollen Handlungsfreiheit beraubt. Die