Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

64 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
politische Handlungsfreiheit war nicht zu erlangen, da Belgien sich natur- 
gemäß zu den Westmächten hingezogen fühlte und troß der wirtschaftlichen 
Interessenverflechtung politischem deutschen Einfluß verschlossen blieb. Auf 
die militärische Handlungsfreiheit war 1839 verzichtet worden. Solange 
Deutschland nicht in einen Gegensath zu England geriet, war dies nicht von 
Bedeutung, im Augenblick, da die Entente zur Versammlung der fran- 
zösischen Flotte im Mietelmeer geführt hatee, war die Neutralität Belgiens, 
ob gewahrt oder verletzt, zu einem Fallstrick für Deutschland geworden, 
wenn sich noch einmal ein großer Koalitionskrieg entzündete. Die Neutralität 
Belgiens war bestehen geblieben, das Interessengleichgewicht, das durch sie 
und in ihr gesucht worden war, nicht. Dieses war durch die Einkreisungs- 
politik zuungunsten Deutschlands und zum Unheil Belgiens zerstört worden. 
Die WVerlegtzung der belgischen Neutralität durch Deutschland bildete im 
Augenblick des geschichtlichen Geschehens ein völkerrechtliches Verschulden 
Deutschlands. Belgien hat seine Sympathie an Frankreich und England 
verschenkt und zu diesen in engen Beziehungen gestonden, die dem Geiste 
der ihm ausdrücklich auferlegten Neutralitätsverpflichtung widersprachen; 
Belgien bat sich auch nicht in den moralischen Grenzen gehalten, die der 
Bevölkerung eines neutralen Landes gesteckt sind, aber selbst die später- 
bin aus belgischen Archiven gezogenen AUrkunden über Besprechungen mili- 
tärischer Fachleute mit englischen und französischen Fachgenossen sind nicht 
geeignet, Deueschland von der Verlehung der Neutralität freizusprechen. 
Belgien war als neutraler Staat anerkannt, es hatte seine Neutralität nicht 
aufgesagt, keiner seiner Unterzeichner die Unterschrift zurückgezogen. Auch 
das benachteiligte Deutsche Reich hatte dies nicht getan. 
Aber die geschichtliche Gerechtigkeit gebietet, auch vom Zwange zu 
reden, in dem sich das Deutsche Reich befand, als es in den Krieg eintrat. 
Es fühlee sich als ein Volk von 70 Millionen dem Verderben aus- 
geliefert, wenn es nicht rechtzeitig aus den ungünstigen militärgeographischen 
Grenzen hervorbrach und in dem ihm von allen Seiten aufgezwungenen 
Verteidigungskrieg das Höchste wagte, indem es im strategischen Ausfall 
das aufgestellte Neg zerriß. Da Belgien, wenn auch gegen seinen staatlichen 
Willen, aber ebenfalls militärgeographischen Verhältnissen unterworfen, 
einen Teil dieses Gewebes bildele, und zwar gerade den schwächsten, so 
brach es hier durch die Maschen. 
„Belgien bildet einen unabhängigen, ewig neurralen Staat. Es ist ge- 
halten, die gleiche Neutralität gegen alle übrigen Staaten zu bewahren.“ 
So lautet der endgültige Bertrag der Mächte über die belgische Neu- 
tralität, der im Jahre 1839 unterschrieben wurde. Belgien ist also nicht wie 
die Schweiz aus eigenem Entschluß und nach einem halben Jahrtausend der 
Selbständigkeit und nach Verzicht auf Machtpolitik zu einem neutralen Staat 
geworden. Die geschichtliche Tatsaoche, daß die schweizerische Neutralität
	        
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