Vom Bruch und vom Mißbrauch der belgischen Neutralität 65
erst 1815 feierlich anerkannt wurde, ändert daran nichts, denn maßgebend
bleibt der Verzicht auf imperialistische Politik, der viel älter ist. Die schweize-
rische Neutralität ist hsherer Ordnung, die Schweiz ist ein neutrales, Belgien
ein neutralisiertes Land (70).
Die belgische Neutralität erscheint als eine Verpflichtung, die dem im
Interesse der benachbarten Großmächte geschaffenen Lande als ausdrückliche
und bestimmt umschriebene Bedingung seines stkaatlichen Bestkandes auferlegt
wurde, ist aber von Beginn nicht als aus der Geschichte erwachsener lebendiger
und lebendig empfundener und bewahrter Staaksgrundsatz gehegt worden; sie
verwuchs daher nicht mit dem Staatsbegriff. Ist der eidgenössische Staats.
gedanke in der Schweiz unzertrennlich von dem Begriffe der ewigen und
freigewählten, vom Wiener Kongreß anerkannten Neutralität, die allein
das friedliche Zusammenwohnen verschiedener Rassen und Kulturen in einem
einzigen, freiheitlich aus gebauten Hause gewährleistet und mit jeder Bündnis.
oder Machtpolitik und einseitigen Freundschafesverhälenissen unvereinbar ist,
so fühlte sich Belgien innerlich an den Neutralitätsgedanken viel weniger
gebunden. Das belgische Volk, das in romanischem Staatsempfinden für
den einzelnen Bürger volle Bewegungsfreiheit forderte, hatte die moralische
Neutralität nicht genügend gewahrk, doch ist daraus kein Recht auf eine
Niederreißung dieser geschwächten Neutralität durch einen Dricten abzuleiten.
Belgien war das Opfer seiner militärgeographischen Lage, die durch
die Neutralisierung des alten westeuropäischen Schlachtenbodens nicht ver-
ändert worden war. Es war zudem längst in die Einkreisungspolieik verstrickt,
als Deutschland nach den fruchelosen Versuchen, die Neutralität auf Grund
einer Verständigung mit England sicherzustellen, zur Gewalt schritt und sie
als „ein Stück Papier" zerriß. Als die Belgier darauf zu den Waffen griffen
und sich auf das tapferste und hartnäckigste schlugen, taten sie dies mit dem
ungebärdigen Mut und Trot, den die Bürger flandrischer Städte in der
Geschichte immer bewährt haben, und fanden darin ein Stück nationaler Ge-
schlossenheit und den Lebenswillen wieder, der sie fähig machte, das schwere
Schicksal zu tragen.
Belgien kat noch mehr. Es opferte sich für Frankreich und England. Statt
nach dem ersten Zusammenstoß mit den deueschen Waffen beiseite zu treten
und einen billigen Frieden entgegenzunehmen, stritt und litt es bis ans Ende.
England aber erließ am 5. August 1914 von der völkerrechtlichen Warte,
die es sich durch die belgische Frage geschaffen hatte, seine Kriegserklärung
an Deutschland. Sir Edward Grey hatte England in der Offentlichkeit
durch diese Policik einen unschähbaren moralischen Vorteil gesichert. Die
„Imponderabilien“ kamen ihm zugut, die ganze angelsächsische und romanische
Welt stand unter dem Eindruck, daß England „gur Verteidigung Belgiens“
das Schwert ziehe. Damit war ein starker, wenn nicht gar der wirksamste
offizielle englische Kriegsgrund gefunden. Er war schlagend, aber für Eng-
Stegemanne Geschichte des Krieges. I. 5