1867 Charakter der deutschen Parlamente. 283
Dieselbe Gewissenhaftigkeit bethätigte sich auch in der
Bildung oder Zersetzung der Parteien. Nur sehr selten kam
es vor, daß eine Partei ihren Mitgliedern ihre Abstimmung
vorschrieb, weil ein solcher Beschluß gelegentlich den Austritt
der Dissidenten zur Folge gehabt hatte; um so häufiger
erlebte man, daß ein Neugewählter sich mit keiner der vor-
handenen Parteien nach jeder Beziehung im Einverständniß
befand und dann mit einigen Gleichgesinnten eine neue
selbständige Gruppe bildete. Ende 1867 war die Zahl der
Fractionen auf acht gewachsen, ein Zustand, der sehr geeignet
war, die Bildung einer geschlossenen und zuverlässigen Mehr-
heit zu erschweren.
Wie im Innern der Parteien, hatte das Wort Diseiplin
auch bei der Gesammtheit der Volksvertretung einen wenig
erfreulichen Klang. Aus jeder Steigerung der parlamentarischen
Disciplinargewalt nach englischem Muster sah man die Gefahr
einer wachsenden Unterdrückung der Minorität hervorgehn.
Auch meinte man, daß im Kreise der Erwählten der Nation
bei einer etwaigen Ungebühr die öffentliche Beschämung durch
den Ordnungsruf des Präsidenten — und man besaß ja
damals im Landtag wie im Reichstag an Forckenbeck und
Simson ebenso kluge wie energische Präsidenten — zur
Sicherung von Recht und Anstand ausreichen würde. Für
die Zukunft baute man auf die Sitte und den idealen Zug
im Charakter des deutschen Volkes.
Dies war damals sehr begreiflich, immerhin aber etwas
unvorsichtig gegenüber den Möglichkeiten einer weniger idealen
Zukunft, wie sie seitdem zu Wirklichkeiten geworden sind,
der Häufigkeit der Ehrenkränkung abwesender Privatpersonen,
sowie der Verdächtigung des sittlichen Charakters der politischen