104 Sieg der liberalen Tendenzen. 1869
Grade. Aber wie lange noch würde Er bei seinem elenden
Krankheitsstande die körperliche und die geistige Kraft behalten,
persönlich die Zügel der Regierung zu führen? Kurz, er ent-
schloß sichzu dem zweiten Schritt. Am 2. August sollte
der Senat zusammen treten, um neben der Erweiterung der
parlamentarischen Rechte auch die zur Bildung eines ver-
antwortlichen Ministeriums erforderlichen Anderungen der
Verfassung zu beschließen.
Dies bedeutete dann allerdings eine gründliche Umwand-
lung der Dinge und die Ausarbeitung aller Folgerungen,
die sich daraus für den künftigen Zustand ergeben würden.
Um die hiebei nöthige Ruhe zu gewinnen, beschloß man die
Vertagung der Kammer auf unbestimmte Zeit, zu heftigem
Unwillen der Radicalen. Am 17. Juli schaffte ein kaiserliches
Decret das Amt des Staatsministers ab (Rouher erhielt das
Präsidium des Senats als prunkvolle und machtlose Ent-
schädigung), und ein anderes verfügte eine Modification des
bestehenden Ministeriums. Fünf Mitglieder blieben an ihrer
Stelle, zwei Abgeordnete übernahmen den Unterricht und die
Landwirthschaft, und die Justiz ging in eine liberalere Hand
über. Auffallend war, daß Lavalette das auswärtige Amt
verließ und mit dem Botschafter in London, dem Fürsten
Latour d'Auvergne, einem Schüler und Gesinnungsgenossen
von Drouya de Lhuys, die Stelle tauschte, ein deutliches
Zeichen, wie wenig Napoleon damals mit der Haltung Italiens
zufrieden war. Draußen erklärten die ungeduldigen Liberalen
das neue Cabinet kurzweg für ein reactionäres; in Wahrheit
aber war die Mehrzahl der Herrn von der Unhaltbarkeit
des jetzigen Provisoriums überzeugt, widerstrebte nicht der
Einsetzung des demnächstigen parlamentarischen Ministeriums,