356 Die Kriegserklärung. 1870
Am folgenden Morgen las man in allen Städten und
Dörfern Norddeutschlands den Anschlag: Alles einziehn, auch
Garde und dritte Augmentation, erster Tag der Mobilmachung
16. Juli. In raschem Zuge verbreitete sich der Ruf zu den
Waffen bis in die entlegensten Gehöfte; er erging an die
Bewohner der reichsten Paläste und der ärmsten Hütten, und
überall regte er den gleichen muthigen Aufschwung an. Von
dem deutschen Volk im Ganzen gilt, was wir früher einmal
von den preußischen Königen bemerkten: es ist ein kriegs-
starkes, aber kein kriegslustiges Geschlecht. Hier war keine
Rede von europäischer Präponderanz und noch weniger eine
Spur von Offensivgedanken gegen den Nachbar im Westen
gewesen. Man freute sich des hoffnungsvollen friedlichen
Daseins; man wollte die Erträgnisse des gedeihlich lohnenden
Wirkens genießen; man wünschte nach Goethe's Spruch zu
leben: Tages Arbeit, Abends Gäste, saure Wochen, frohe
Feste. Plötzlich stürmte in diesen Friedenszustand auf den
Anlaß einer spanischen Königswahl der französische Angriff
hinein, der allem Volke als ein Wahnsinn oder eine Ver-
ruchtheit erschien, und nun wallte das sonst so ruhige deutsche
Blut in heftiger Erbitterung auf, und der alte furor teutonicus
warf sich dem französischen Elan mit riesenhafter Wucht ent-
gegen. Eben weil aus dem Drang der Vertheidigung ent-
sprungen), war die Erregung tiefer und allgemeiner als
in Frankreich. Der ideale Gedanke der deutschen Einheit
wirkte zusammen mit der realen Gefährdung aller privaten
Verhältnisse. Der Landwehrmann, der Weib und Kind, nur
zu oft in bitterer Noth, zurücklassen mußte, ballte beim Aus-
marsch die Faust: Gott sei dem Franzosen gnädig, der mir
unter die Hände kommt. Die jungen Soldaten nahmen