Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Die letzten Tage 129 
Gelegenheit, sie unauffällig zu ergänzen, wurde geradezu geflissentlich 
außer acht gesetzt. Um die tatsächliche Harmlosigkeit Berlins zu beweisen, 
auch für den Fall, daß darüber das Land zugrunde ginge, waren wirt- 
schaftlich und industriell nicht die einfachsten Vorsichtsmaßregeln für 
gespannte Lagen getroffen worden. 
Außer dem Wunsch, bei der Entente keinen falschen Verdacht auf- 
kommen zu lassen, dürfte auch der Trieb maßgebend gewesen sein, 
den Etat peinlich innezuhalten. Man hätte leicht in großem Maßstab 
einkaufen und sich dafür, wenn der Frieden erhalten blieb, vom 
Reichstag Indemnität erteilen lassen können. Der Ernstfall war aber 
augenscheinlich nicht ernst genommen worden. Die Reichsleitung 
ließ jedes Ressort für sich und im Dunkeln über die Ansichten 
und Absichten der anderen. Während die einzelnen militärischen 
Ressorts bei der Mobilmachung mir auf den Knopf zu drücken brauch- 
ten, fehlte jeder Gesamtplan für den Fall einer Weltkatastrophe. Wir 
fanden uns Ende Juli 1914 in ein Durcheinander hineingestellt, und 
zwar bei einem der englischen Improvisationsgabe im ganzen nicht 
gleichwertigen Talent, worüber auch das sittliche Bewußtsein nicht weg- 
trösten konnte, daß das Deutsche Reich unter allen Großmächten sich 
wohl am wenigsten mit Kriegsmöglichkeiten beschäftigt hatte. Trotz 
diesem selbstmörderischen Beweise unserer Friedensliebe ließ sich infolge 
der nach Kriegstreiberei aussehenden Heimlichkeiten unserer Politik 
im Juli 1914 die Welt doch von unserer Schuld überzeugen. Wir waren 
das Schaf im Wolfskleid. 
5 
Am 27. Juli, als ich in Berlin eintraf, bestand, so wie ich die 
Lage jetzt überblicke, wohl noch eine knappe Möglichkeit, das Frie- 
densschiff an den Klippen vorbeizupressen und klarzuscheren. Damals 
machte ich mir, ebenso wie der Kaiser, der gegen des Kanzlers Wunsch 
aus eigenem Entschluß heimgekehrt war, und die Ministerkollegen, 
die jetzt in Berlin zusammenströmten, ein falsches Bild von der Lage. 
Der Schlüssel zu ihrem Verständnis war in der Wilhelmstraße 
verloren gegangen. Ich erfuhr von den russischen Rüstungen und 
glaubte nun auch, die tatsächlich zufällige, seit Monaten angeordnete 
Mobilmachung der englischen Flotte als eine drohende Maßregel auf- 
fassen zu müssen. Über Bethmanns Handlungen, um in dieser Phase 
Tirpitz, Erinnerungen 9
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.