Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Unsere Kriegserklärung an Rußland 133 
mann wirklich die ungeheuerlichen Nachteile nicht bedacht, welche uns 
erwuchsen, wenn wir den Akt der Kriegserklärung nicht den Feinden 
überließen? 
Ich hatte den Eindruck, daß auch nach dieser Richtung unsere Aktion 
völlig unüberlegt und ohne jede Regie verlief, und mein Gefühl sträubte 
sich dagegen, daß wir, die wir doch in Wahrheit die Angegriffenen 
waren, vor der Welt wegen der Juristen des Auswärtigen Amtes das 
Odium des Angreifers übernehmen sollten, obwohl wir gar nicht 
beabsichtigen konnten, in Rußland einzumarschieren. Ich fragte also 
den Kanzler beim Verlassen der Sitzung, weshalb denn die Kriegs- 
erklärung mit unserer Mobilmachung zusammenfallen müßte? 
Der Kanzler erwiderte, das sei nötig, weil die Armee gleich Trup- 
pen über die Grenze schicken wollte. Die Antwort befremdete mich, 
da es sich doch höchstens um Patrouillen handeln konnte. Bethmann 
war aber in diesen ganzen Tagen so aufgeregt und überreizt, daß 
nicht mit ihm zu sprechen war. Ich höre ihn noch, wie er mit er- 
hobenen Armen wiederholt die unbedingte Notwendigkeit der Kriegs- 
erklärung betonte und damit jede weitere Erörterung abschnitt. 
Moltke, nachher von mir gefragt, wie es sich mit der Grenzüber- 
schreitung als Grund unserer Kriegserklärung verhielte, bestritt, daß 
die Absicht bestünde, sofort Truppen über die Grenze zu schicken. 
Er sagte mir auch, daß er auf die Kriegserklärung von seinem Stand- 
punkt aus keinen Wert legte.   
Das Rätsel, weshalb wir zuerst den Krieg erklärten, bleibt also 
für mich ungelöst. Vermutlich taten wir es aus formaljuristischer 
Gewissenhaftigkeit. Die Russen fingen den Krieg ohne Erklärung an, 
aber wir glaubten uns nicht ohne eine solche wehren zu dürfen. 
Außerhalb Deutschlands hat man für solche Gedankengänge kein Ver- 
ständnis gehabt. 
Nachmittags zur kaiserlichen Unterzeichnung des Mobilmachungs- 
befehls ins Schloß gerufen, kam ich infolge einer Verkehrsstörung 
verspätet an, als die Orders schon unterzeichnet waren. Ich hörte 
aber, daß ein russisches Akzept unserer Kriegserklärung noch nicht 
vorläge und machte deshalb zum letzten Male einen Versuch, in dem 
Gedanken, daß es, bis die Russen unsere Kriegserklärung entgegen- 
genommen hätten, immer noch Zeit wäre, ihr eine abmildernde Depesche 
nachzusenden. Ich konnte mich nicht losmachen von dem Triebe,
	        
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