Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

216 Kriegsbriefe 1914 
wird größer werden mit der Zeit. Die kleinen Erfolge unserer Flotte täuschen 
mich nicht. Die Kreuzer draußen müssen schließlich einer nach dem andern 
sterben aus Mangel an Kohlen und Nahrung und Werkstätten. England 
hat sogar die Schweiz dazu gebracht, Ausfuhrverbote gegen uns zu erlassen. 
Mit Holland ist es ebenso. Dazu kommt in Holland noch Abneigung gegen 
uns. Schweden und Norwegen werden in vielen Dingen drangsaliert; so dürfen 
norwegische Zeitungen nicht mehr nach England. Wenn wir nicht noch Extra- 
glück haben, so wird die Lage sehr ernst. Dieses Extraglück hatten wir in 
der Hand. Es scheint, daß Moltke falsch inspiriert war. 
Charleville, 4. X. 
Dieser Krieg ist wirklich der größte Wahnsinn, den die weiße Rasse je 
begangen hat. Wir schlagen uns auf dem Kontinent gegenseitig tot, damit 
England den Profit hat. Dabei bekommt es das perfide Albion fertig, auf 
der ganzen Welt uns als die Schuldigen hinzustellen. Man könnte allen 
Glauben an das Gute verlieren. Freilich sind wir nicht ohne Schuld. Das 
trifft am meisten die Leitenden; aber das Bramarbasieren war auch sonst 
üblich und mir von jeher widerwärtig. Dabei ist die Tragikomik, daß, wie 
Capelle ganz richtig mir neulich schrieb, ich nun einmal unter die Chauvinisten 
und Hetzer gerechnet würde. Antwerpen wird sich wohl nicht zu lange mehr 
halten. Im übrigen aber stehen zwei Festungslinien quer durch Frankreich 
sich gegenüber, partie remise bis jetzt. Ob die neue Führung wirklich gut ist, 
das kann man nicht beurteilen. Vorher war es sehr schlimm und es sickert 
doch langsam durch. Am meisten Ruf hat der Chef des Stabes von Hinden- 
burg, General Ludendorff. Er hat aber jetzt eine sehr schwierige Aufgabe 
vor sich, da die Bundesbrüder in Galizien äußerst mäßig sind. Napoleon III. 
hatte recht: „on ne sallie pas avec un cadavre." 
Charleville, 6. X. 
Soeben ist Pohl von Wilhelmshafen zurückgekommen und hat sich die 
Zustimmung von Ingenohl geholt, daß nichts gemacht wird. Die Uboots- 
gefahr und überhaupt der Gedanke, die Flotte zu erhalten, überwiegt alles. 
Pohl hat die geradezu kindliche Idee, daß die Flotte nach dem Kriege ver- 
doppelt werden müßte, und Bethmann sei auch dieser Ansicht, während die 
hohe Wahrscheinlichkeit umgekehrt liegt, politisch, finanziell und aus Rück- 
sichten des Ubootsruhms. Es kann auch das Flottengesetz nicht erhalten 
bleiben. An die wilden Hoffnungen, Aufstand der Inder und der gesamten 
Muselmänner zu unsern Gunsten glaube ich auch nicht recht. Harnacks Ant- 
wort an die englischen Gelehrten finde ich auch gut; aber wir verstehen uns 
nicht mehr mit den Engländern, haben es wohl nie getan, seit wir nicht 
mehr anerkennen wollen, das sie allein das auserwählte Volk Israel sind 
und alle andern Völker nur Zitronen für sie sein dürfen. 
Charleville, 9. X. 
S. M. ließ mich eben zu einer Unterredung rufen. Ich traf ihn auf der 
Straße mit seinem Gefolge. Die Unterredung bestand in der Mitteilung, daß
	        
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