Full text: Auswahl für das Feld.

vermochte die Kunst der Arzte, was die menschenfreundliche Auf- 
opferung des edlen Ostfriesen Reil gegen solches Ubermaß des 
Jammers? Das Medizinalwesen der Heere war überall noch 
nicht weit über die Weisheit der friderizianischen Feldscherer hin- 
ausgekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bür- 
gerschaft lag noch der Schlummergeist des alten kursächsischen 
Lebens, sie verstand nicht rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang 
blieben die Leichen der preußischen Krieger im Hofe der Bürger- 
schule am Wall unbeerdigt, von Raben und Hunden benagt; in 
den Konzertsälen des Gewandhauses lagen Tote, Wunde, Kranke 
auf faulem Stroh beisammen, ein verpestender Brodem erfüllte 
den scheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Kot sickerte lang- 
sam die Treppe hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen 
fuhken, dann geschah es wohl, daß ein Toter der Kürze halber 
aus dem dritten Stockwerk hinabgeworfen wurde, oder die beglei- 
tenden Soldaten bemerkten unter den starren Körpern auf dem 
Wagen einen, der sich noch regte, und machten mit einem Kolben- 
schlage mitleidig dem Greuel ein Ende. Draußen auf dem Schlacht- 
felde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es währte lange, bis 
die entflohenen Bauern in die verwüsteten Dörfer heimkehrten und 
die Leichen in großen Massengräbern verscharrten. Unter solchem 
Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutschen Boden Ab- 
schied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt sagte: „Dahin wollte 
es fast mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menschenarten 
gab, Menschenfresser und Gefressene!“ Dem Geschlechte, das solches 
gesehen, blieb für immer ein unauslöschlicher Abscheu vor dem 
Kriege, ein tiefes, für minder heimgesuchte Zeiten fast unverständ- 
liches Friedensbedürfnis. 
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