Full text: Auswahl für das Feld.

sichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunstwerke an— 
haftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen 
Moment voll unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in 
dem Morgen nach Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat ver— 
standen, die Gunst der Fabel auszubeuten. Kein Augenblick des 
Grausens wird uns erlassen von der Stunde an, da Kriemhild 
erwacht und der Kämmerling über den toten Mann vor der Tür 
stolpert, bis zu jener schrecklichen Totenprobe, da der grimme Hagen 
unerschüttert ruft: 
das rote Blut! Ich hätt' es nie geglaubt, 
nun seh' ich es mit meinen eignen Augen. 
In solcher Weise ist der fünfte Akt von Siegfrieds Tod das Schönste 
geworden, was Hebbel je geschrieben. 
Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, 
das Reckenhafte seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen ge— 
zeichnet hat, so war sein Plan doch keineswegs, uns durch das 
Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich in Erstaunen zu setzen. 
Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der Heiden, 
der Gewissenlosen, das einer neuen reinen Menschheit die Stätte 
räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christentums, welche 
in das Nibelungenlied hineinspielen, weiter verfolgt und den Heiden 
Hagen in grimmiger Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Zu— 
letzt, als die Heiden sich hingemordet, ergreift der Christ Dietrich 
von Bern das Szepter der Welt 
„im Namen dessen, der am Kreuz verblich“. 
Dies war sicherlich der einzige Weg, um das Entsetzen dieser Fabel 
zu einem für das moderne Bewußtsein versöhnenden Abschlusse 
zu führen. Dennoch liegt hier eine Schwäche des Werkes. Die 
christlichen Elemente treten im Verlaufe der Handlung so wenig 
hervor, Dietrich selbst greift so wenig in das Spiel ein, daß sein 
letztes Aufsteigen fast wie ein symbolischer Zug, zum mindesten 
nicht als eine Notwendigkeit erscheint. Der ruhige gewaltige Alte 
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