die Bildung eines „zeitgemäßen“ Schriftstellers vollendet ist.
Nirgends tritt uns die furchtbare Gewalt, welche die Gesellschaft
über die persönliche Freiheit ausübt, unheimlicher entgegen, als
wenn wir uns fragen, wie wir aussehen, wie wir uns kleiden?
Wir sind in diesem Punkte die unbedingten Sklaven der Mode,
und welcher Model Ist es etwa natürlich, daß wir allesamt frei-
willig verzichtet haben auf ein Urrecht des Menschen, auf das
Recht, uns zu kleiden nach unserem Belieben, und nun vergnüg-
lich als eine gleichförmige schwarzgraue Herde einhertraben? „Nicht
auffallen, nirgends anstoßen“ — dieser Grundsatz unfreier Moral
steht hoch in Ehren, und gewaltig herrscht die Neigung der Ge-
sellschaft, zwar sich selbst als ein Ganzes fortzubilden und rüstig
vorwärts zu bringen, aber jedem einzelnen zu verbieten, daß er
sich absondere von der Bewegung der Masse.
Trübe, ernste Fragen in der Tat. Aber ist denn wirklich die
gewaltige Bewegung massenhafter Kräfte, worauf die Größe dieser
Zeit beruht, nur möglich auf Kosten der Ursprünglichkeit und
Selbständigkeit der einzelnen? Wer darf es wagen, eine so radi-
kale, so tief einschneidende Anklage gegen einen ganzen Zeitraum
zu erheben? Eine Zeit, welche mit so starker Vorliebe den histo-
rischen Wissenschaften sich hingibt, deren Sprache neben einer Fülle
von Reminiszenzen und Anspielungen nur selten die wuchtige
Entschiedenheit des schöpferischen Gedankens zeigt, eine solche Zeit
ist keine Epoche fertiger Bildung, ist eine Periode des Ubergangs.
Sie gleicht einem Menschen, der zurückblickt auf sein Tun und
Treiben und sich sammelt, gelassen lauschend auf die Stimme in
seinem Innern; ihr ist auferlegt, die probehaltigen Ergebnisse
eines Zeitraumes geistiger Kämpfe in die Wirklichkeit besonnen
einzufügen. Und ist nicht schon dieser Ubergang zu reinerer
Menschenbildung ein großer Segen? Sollen wir uns etwa zu-
rücksehnen nach dem Zeitalter der Originale, nach der erst halb
überwundenen falschen persönlichen Freiheit des staatlosen Phi-
listertums? Allerdings haben wir gelernt, der politischen Freiheit
manches Opfer persönlicher Freiheit zu bringen. Es ist dem treuen
45