Full text: Deutsches Lesebuch. Zweiter Theil. Realienbuch. (2)

103. Die Spinnen. 103 
sechstausendfach zusammengesetzt sein könne. Das bringen 
sie aber so heraus. Die Spinne hat an ihrem Körper nicht 
nur eine, sondern sechs Drüsen, aus welchen zu gleicher 
Zeit Faden hervorgehen. Aber jede von diesen Drüsen hat 
wohl tausend feine Oeffnungen, von welchen keine umsonst da 
sein wird. Wenn also jedesmal aus allen diesen Oeffnungen 
ein solcher Faden herausgeht, so ist an der Zahl 6000 
nichts auszusetzen. Und da kann man wohl auch begreifen, 
dass ein solcher Faden, obgleich so fein, doch auch so fest 
sein könne, dass das Thier mit der gröfsten Sicherheit daran 
auf- und absteigen und sich in Sturm und Wetter darauf ver- 
lassen kann. Muss man nicht über die Kunst und Geschicklich- 
keit dieser Thiere erstaunen, wenn man ihnen bei ihrer stillen und 
unverdrossenen Arbeit zuschaut, und an den grolsen und weisen 
Schöpfer denken, der für alles sorgt und solche Wunder in cinem 
s0 kleinen und unscheinbaren Körper zu verbergen weils? 
Das mag alles gut sein, denkt wohl mancher, wenn sie 
nur nicht giftig wären, und läuft davon oder zertritt sie, wo 
er eine findet. Aber wer sagt denn, dass unsere Spinnen 
gitig seien? Noch kein Mensch ist in unseren Gegenden 
von einer Spinne vergiftet worden. 
Auch sonst thun diese Thierlein, die nur für Erhaltung 
ihres eigenen Lebens besorgt sind, keinem Menschen etwas 
zu leide. Im Gegentheil leisten sie in der Natur einen grofsen 
Nutzen, den man aber, wie es oft geschicht, nicht hoch an- 
schlägt, weil jede einzelne wenig dazu beizutragen scheint. 
Es ist das Geringste, dass sie hie und da einer Stubentfliege 
den Garaus machen. Aber sie verzehren auch eine grolse 
Menge anderer sehr kleiner Mücklein, welche uns durch ihre 
Menge erstaunlich beschwerlich und schadlich würden, und 
gegen welche man sich nicht erwehren könnte, wenn sie 
überhand nähmen. Sind nicht manchmal ganze Ackerfurchen 
mit Spinnengeweben überzogen und glänzen im Morgenthau? 
Wie manches Mücklein geht da zu Grunde! 
Ein Gefangener machte einst in seinem einsamen Zimmer 
eine Spinne so zahm, dass sie seine Stimme kannte und allemal 
kam, wenn er sie lockte und etwas für sie hatte. Sie ver- 
kürzte ihm an einem Orte, wo kein Freund zu ihm kommen 
konnte, manche traurige Stunde. Aber als der Kerkermeister 
es merkte, brachte er sie ums Leben. Was ist verab- 
scheuungswürdiger, ein solches Thier, das doch noch einem 
Unglücklichen einiges Vergnügen machen kann, oder ein 
solcher Mensch, der dem Unglücklichen auch dieses Vergnügen 
missgönnt und zerstört? 
Ein anderer Gefangener, der sonst nichts zu thun wusste, 
gab lange Zeit auf die Spinnen Acht; er merkte, dass sie auch
	        
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