308 259. König Wilhelm im Lazaret.
Kreis der Seinen trat. Hier verlas er das Schreiben, dessen
kurzer, aber bedeutungsvoller Inhalt lautete: „Mein Herr
Bruder! Da es mir nicht gelungen ist, den Tod inmitten meiner
Truppen zu finden, bleibt mir nichts mehr übrig, als meinen
Degen in die Hände Eurer Majestät zu legen. Ich bin Euer
Majestät guter Bruder Napoleon."“
Alle waren tief ergriffen. Der König, keines Wortes mächtig,
schüttelte jedem seiner Braven die Hand: dann unterredete er
sich mit Moltke und Bismarck. Während dessen sprachen die
Generale theilnahmsvoll mit Reille. Der König nahm nach der
Unterredung auf einem Stuhle Platz. Ein Major hielt einen
Schemel vor ihn, und der König schrieb:
„Mein Herr Bruder! Indem ich die Umstände bedaure,
in denen wir uns begegnen, nehme ich Ihren Degen an und
bitte Sie, einen Ihrer Offiziere zu ernennen, der mit Macht-
vollkommenheit von Ihnen versehen ist, um über die Kapitulation
der Armee zu unterhandeln, welche sich so tapfer unter Ihren
Befehlen geschlagen hat. Meinerseits habe ich den General
von Moltke zu diesem Zwecke bezeichnet. Ich bin Eurer Majestät
guter Bruder Wilhelm. Vor Sedan den 1. September 1870.“
Dieses Schreiben wurde Reille übergeben, der es mit ent-
blößtem Haupte entgegennahm. Nachdem der König und der
Kronprinz Reille die Hand gedrückt hatten, stieg dieser zu Pferde
und ritt, von Winterfeld und zwei Ordonnanzen geleitet, zur
Stadt zurück.
Jetzt hallte der Jubel der Truppen die ganze Linie entlang
und ward weit in die Gegend hinein gehört. Die Freude war
groß, allgemein, innig und herzlich, aber dennoch ernst. Die
Streiter des 1. September waren sich wohl bewußt, was sie
erstritten, und welche Opfer die glorreichen Kämpfe erfordert
hatten, die das Schicksal zweier mächtigen Nationen entschieden.
259. König Wilhelm im Lazaret.
Eines Tages durchschritt der deutsche Kaiser Wilhelm die
Lazaretsäle zu Versailles. Deberall tröstete er, und oftt war es
schon der blolse Anblick seines lieben, treundlichen Gesichts,
welcher die armen Verwundeten auf Augenblicke ihre Schmerzen
vergessen liels. — Diesmal trat er auch zu der Lagerstätte eines
ungen verwundeten lufanteristen. Der war infolge eines Schlat-
pulvers eingeschlummert und hatte ein Album von Gedichten liegen
lassen. Der König trat leise, um den urmen Verwundeten nicht
zu stören, hinzu, nahm den neben dem Album liegenden Bleistift
und schrieb die wenigen Worte hinein:
„Mein Sohn, gedenke Deines treuen Königs!
Wilhelm.“
Der Soldat erwachte, und reiche Thränen perlten ihm beim
Anblick dieser Zeilen aus den Augen. Wenige Tage darauf be-