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der Besatzung von Namur; sie waren nach Nordfrankreich geflohen, in
Havre an Bord eines englischen Transportdampfers gegangen und an der
belgischen Küste wieder gelandet. Sie sahen elend aus, mit zerrissenen
Schuhen, phantastischer Kopfbedeckung oder barhaupt. Artillerie und Be-
satzungstruppen der Antwerpener Forts Lebbeke, Willebroek und Londerzeel
griffen bei der Verteidigung von Dendermonde mit ein, doch vergebens. In
wenigen Stunden war es von den Deutschen genommen. Der Kriegs-
korrespondent des „Daily Telegraph“ drahtet aus Paris folgende Dar-
stellung des englischen Rückzuges: „Die englische Expeditionsarmee hat
sich jetzt chon mehr als drei Wochen kämpfend, zurückgezogen. Der Rückzug
füng in dem Augenblick an, als die Armee mit der Bahn von Blancomisseron
über die französische Grenze gebracht worden war. Nach kräftiger Verteidi-
gung zogen die Engländer sich auf Denain zurück. Dort und in Landrecies
kam es zu erbitterten Straßenkämpfen. General French hatte damals sein
Hauptquartier in Le Chateau, das später von den Deutschen zerstört wurde.
French verlegte nun das Hauptquartier nach St. Quentin in das Henri-
Martin-Lyzeum. Die englische Artillerie wurde auf die die Stadt beherr-
schenden Anhöhen aufgestellt. Die Schlacht bei St. Quentin war in vielen
Hinsichten der von 1870 ähnlich, nur näherten sich die Deutschen aus einer
anderen Richtung. Während voller zehn Tage wurde darauf zwischen
St. Quentin, Peronne und Vervins mit großer Hartnäckigkeit gekämpft.
Ein französisches Artillerieregiment befand sich in Catelet zwischen Cambrai
und St. Quentin. Trotz doppelter Flankenbedrohung drang die deutsche
Kolonne weiter im Oisetal vor. Ein französischer Flankenangriff wurde
auf Guise zurückgeworfen und French gezwungen, sein Hauptquartier zuerst
nach Noyon und später nach Clermont zu verlegen. Nun entfaltete sich die
englische Armee zwischen Clermont und Soissons, achtzig Kilometer nörd-
lich von Paris. Im Laufe der Schlacht wurde eine deutsche Kavallerie-
abteilung mit Aufklärungstruppen im Compiègner Wald überrascht und
verlor zehn Geschütze. Eine andere deutsche Abteilung drang bis zum
Bahnhof Anizy-le-Chäteau zwischen Laon und Soissons vor. Das Vor-
wärtsdrängen der deutschen Armee zwang die Engländer, ihren Stützpunkt
am Meer von Boulogne nach Havre zu verlegen.“ Im „Echo d-Ostende“
bezeichnet ein Augenzeuge der Besetzung von Charleroi alle Meldungen
über einen hartnäckigen französischen Widerstand und eine mehrmalige
Rückeroberung von Charleroi als völlig aus der Luft gegriffen. Die
Deutschen besetzten sofort die Stadt. Ebenso ist die Meldung von einer
völligen Zerstörung Charlerois unbegründet. Insgesamt wurden 165
Häuser eingeäschert. Die Stadt ist jetzt ruhig. (Berl. Tagebl.)
Italien bleibt weiter neutral.
Zürich, 7. September. Wie hierher gemeldet wird, hat der italie-
nische Ministerrat am Sonnabend nach der Erklärung San Giulianos be-
schlossen, aus der neutralen Haltung unter keinen Umständen heraus-
zutreten. Die Ereignisse, die sich in den letzten Tagen am Balkan und in
Albanien abgespielt haben, seien nicht geeignet, die bisherige Haltung
Italiens irgendwie zu beeinflussen. Ministerpräsident Salandra soll, nach
Blättermeldungen, verfügt haben, die bisher aufgebotenen italienischen
Truppen seien zur Aufrechterhaltung der Neutralität genügend. Eine
allgemeine Mobilisierung habe nicht stattzufinden.