Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.3. Das Staatsrecht des Großherzogtums Baden. (3)

8632. Die Gemeinden. 143 
Den Grundsatz der Selbständigkeit der Gemeinden erkannte die Gesetzgebung sowohl aus- 
drücklich, als in der Beschränkung des seitherigen staatlichen Bevormundungsrechtes auf ein 
Recht der Beaufsichtigung, als endlich dadurch an, daß die Bestellung der Gemeindebehörden 
der freien Wahl Seitens aller Bürger aus allen Bürgern anheim gegeben und dabei insbeson- 
dere das Recht der Regierung, den zum Bürgermeister Gewählten zu bestätigen, oder nicht, 
wesentlich beschränkt wurde. 
Bei dem Vollzug der neuen Gesetzgebung zeigte sich jedoch, daß man — gegenüber dem 
früheren allzu langsamen Vorschreiten auf der Bahn der Gemeinde-Entwickelung — jetzt in der 
Durchführung jener beiden großen, sonst so wohl berechtigten und fruchtbringenden Grundsätze, 
namentlich desjenigen der Gleichberechtigung der Bürger, allzu rasch und unvermittelt vor- 
gegangen war. 
Es erfolgten daher und mit Rücksicht auf die besonderen Zeitverhältnisse in den Jahren 
1833, 1837, 1851 und 1858 Gesetzesänderungen in mehr einschränkender Richtung. 
Mit der durch das Jahr 1860 eröffneten Periode der Gesetzgebung, welche den Grund- 
satz der Selbstgestaltung und Selbstverwaltung auf allen Gebieten des staatlichen Lebens durch- 
zuführen sich bestrebt, und seit dem 1. Januar 1871 in Folge der Thätigkeit der Reichsgesetz- 
gebung trat eine Reihe solcher Gesetze in Wirksamkeit, welche den, wenn auch nur allmählichen, 
Umbau eines großen Theiles der Gemeindegesetzgebung auf wesentlich geänderter Grundlage 
zur Folge hatten. . 
Die Gemeindegesetzgebung von 1831 beruht auf dem Grundsatze der Bürgergemeinde. 
Nach ihr gehört nur derjenige Staatsbürger der Gemeinde mit seiner Person in der Art 
an, daß er in derselben zur Theilnahme an der Gemeindeverwaltung berechtigt ist, welcher durch 
eine besondere, von seinem eigenen freien Willen ausgegangene Handlung — Bürgerrechts- 
antritt, Bürgeraufnahme — in den Gemeindeverband eingetreten ist. 
Die Annahme gerade dieses Gemeindesystems war keine willkürliche; sie war eine durch 
die geschichtliche Entwickelung, die vorhandenen Thatsachen und durch die Gesetzgebung, welche 
zu jener Zeit auf dem Gebiete des sozialen und wirthschaftlichen Lebens herrschte, gebotene. 
Es galt damals auf dem Gebiete des Gewerbewesens das Zunftsystem. Damit übereinstimmend 
war die Freiheit der Niederlassung und des Aufenthaltes an einem anderen Orte, als dem der 
Heimath, nicht gesetzlich geschützt und war die Gründung einer Familie erschwert. 
Auf diesen Gebieten trat durch das badische Gewerbegesetz vom 20. Sept. 1862, und die 
Gesetze vom 4. Okt. 1862 über Niederlassung und Aufenthalt, Aufhebung einiger Beschränkungen 
des Rechtes zur Verehelichung und bürgerliche Gleichstellung der Israeliten, sodann durch das 
Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung eine durchgreifende Aenderung in der 
Richtung freier Gestaltung und Entfaltung des wirthschaftlichen und sozialen Lebens ein. Sie 
mußte nothwendig zu einer Umgestaltung auch des Gemeindewesens in gleicher Richtung führen. 
Eine solche erfolgte zunächst für alle Gemeinden durch das Gesetz vom 14. Mai 18701), 
durch welches die unmittelbare Theilnahme der Bürger an den Gemeindeangelegenheiten erhöht, 
gegenüber der Staatsverwaltungsbehörde die Selbständigkeit der Gemeinden gestärkt, unter den 
Gemeinden selbst aber der thatsächlichen Verschiedenheit der größeren von den kleineren Ge- 
meinden mehr als seither Rechnung getragen worden ist. 
Im Zusammenhang hiermit stehen die Gesetze vom 5. Mai 1870, über die öffentliche 
Armenpflege und über die Erleichterung der Eheschließung und über das Aufenthaltsrecht"). Durch 
das erstere ist die öffentliche Unterstützung, durch das zweite das Recht zur Verehelichung vom 
Bürgerverbands-Verhältniß völlig losgelöst, durch das dritte das Aufenthaltsrecht noch mehr 
geschützt worden. 
Diese gesetzgeberische Anerkennung der Grundsätze der Freizügigkeit, Gewerbe= und Ver- 
ehelichungsfreiheit und die Loslösung der Unterstützungspflicht vom Gemeindeverband, unmittel- 
bar darauf ebenso vom Reiche anerkannt oder von Reichs wegen für Baden Rechtens geworden, 
mußten, im Zusammenhang mit einer Reihe anderer, die wirthschaftlichen und sozialen Verhält- 
nisse beeinflussender Umstände, eine Aenderung in der Zusammensetzung des persönlichen Ele- 
mentes in jenen Gemeinden bewirken, in denen die Industrie eine größere Bedeutung gewonnen 
hatte und kein Bürgergenuß von erheblichem Werth vorhanden war. In besonderem Grade 
trat dies in den größeren Städten hervor. 
Der Gesetzgeber mußte sich daher dazu entschließen, zunächst bezüglich der größten Städte 
des Landes eine Umgestaltung ihres Bürgerverbandes und des Organismus ihrer Behörden 
1) G. u. U. Bl. Nr. XXXVI, S. 423. 2) G. u. V. Bl. Nr. XXXII, S. 387 u. 396.
	        
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