869. Gesetz. 163
Dem Gewohnheitsrechte, d. h. der Bildung von Rechtsnormen durch die Thatsache,
daß eine gewisse Handlungsweise durch die Staatsangehörigen oder auch durch die Behörden
selbst eine gewisse Zeit lang gleichmäßig offenkundig geübt oder geduldet worden ist in
der Meinung, Recht zu thun, ist nur ein geringer Spielraum gegeben.
Auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes ist es allgemein aufgehoben und nur in den
vom Gesetz bestimmt bezeichneten Fällen als Ergänzungsmittel zur näheren Bestimmung des
Willens des Gesetzes oder der Vertragspersonen zugelassen 7).
Auch auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes ist die langjährige gleichmäßige Uebung
nur da ein Titel zur Begründung von Rechten und Verbindlichkeiten, wo das Gesetz dies
ausdrücklich zuläßt. Denn gerade dem öffentlichen Rechte, d. h. den Normen für die Funk-
tionen des Staatsganzen und für die Beziehungen des Einzelnen zu diesem Ganzen als
Glied desselben entspricht es nicht, daß ein Zustand als rechtmäßig anerkannt werde, ohne
alle weitere Grundlage als die seines langjährigen Bestehens?).
Insbesondere ist in der badischen Verfassung eine andere Art der Setzung von Rechts-
normen als im Wege ausdrücklich hierauf gerichteter Kundgebung nicht zugelassen 3).
Diese ausdrückliche Setzung von Rechtsnormen ist, soweit sie unmittelbar von der
Staatsgewalt ausgeht, je nach Form und Inhalt entweder Gesetz, d. i. Staatswille in feier-
lichster Form, oder Verordnung i. w. S.; sofern sie, mit staatlicher Ermächtigung, von dem
Organ eines Selbstverwaltungskörpers erlassen ist, statutarische Satzung.
Allen diesen Kundgebungen des gesetzgeberischen Willens ist, damit sie als bindende
Rechtsnormen erscheinen, Folgendes gemeinsam:
1. Daß die Willensäußerung eine Satzung enthalte, welche befolgt werden muß.
Bloße Empfehlungen, Ermahnungen, Darlegung von Grundsätzen und Vorsätzen sind weder
Gesetze noch Verordnungen. Jede gesetzgeberische Kundgebung ist ihrem Wesen nach Gebot,
weil ein kundgegebener Wille, der nicht durchgeführt werden wollte, keiner wäre.
2. Sie muß grundsätzlich dazu bestimmt sein, von Jedermann im Staate befolgt zu
werden.
3. Daß die Rechtssatzung eine allgemeine sei, d. h. die Möglichkeit des Vorkommens
einer Anzahl von zum Voraus nicht schon einzeln bekannter Fälle ihrer Anwendung vor-
aussetze, ist zwar die Regel, aber nicht unbedingt nothwendig. Wohl aber muß die Rechts-
satzung die Bestimmung haben, für eine gewisse, wenn auch vielleicht nur kurze Zukunft
maßgebend zu sein.
4. Die Satzung muß als solche veröffentlicht sein. Denn es muß für Jedermann
die Möglichkeit gegeben sein, sie zu kennen, um sie zu befolgen. Näheres hierüber s. u.
§ 69. I. Gesetz. Damit eine Rechtssatzung als „Gesetz“ erscheine, ist nothwendig,
daß sie von der höchsten Staatsgewalt ausgegangen sei und deren eigenen, durch keine
andere Kundgebung des Staatswillens rechtlich gebundenen Willen darstelle.
Hiernach ist keinenfalls Gesetz nur Verordnung, eine Vorschrift — von wem sie er-
lassen sein mag —, die nur auf Grund und zur Vollziehung eines bereits bestehenden Gesetzes
erlassen ist. Anderseits ist in diesem materiellen Sinne auch die sog. Rechtsverordnung
1) II. Einf.Ed. z. Landrecht, § 3; L. R. S. 6 d, 6f. Vgl. hierzu — mit einander nicht ganz
übereinstimmend — Behaghel, badisches bürgerl. Recht, 3. Aufl., Tauberbischofsheim 1892, I. Bd.,
S. 28, u. Barazetti, Einführung in d. franz. Civilrecht, 2. Aufl. Heidelb. 1894, S. 70 ff.
2) Dies gilt auch für die Verjährung. S. Rechtspr. Nr. 173—182, 229—230. Auf das Her-
kommen oder auf einen gewissen unbestrittenen Zustand verweist z. B. die Gemeindeordnung bezüglich
des Bürgergenusses, der Verhältnisse zusammengesetzter Gemeinden.
3) Die sog. Praxis der Behörden, selbst die der einzelnen Faktoren der Gesetzgebung, schafft
kein bindendes Recht; fie kann jederzeit wieder verlassen werden. Sie ist nur als Mittel für die
Auslegung und gleichmäßige Anwendung des gesetzgeberischen Willens, wenn dieser nicht klar oder
nicht vollständig ausgesprochen ist, von Bedeutung.
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