164 Vierter Abschnitt: Allgemeine Funktionen der Staatsgewalt. I. Kapitel. 869.
Gesetz, d. h. diejenige Recht setzende Vorschrift, welche n ach Einführung der Verfaffung von
1818 von der höchsten Staatsgewalt auf einem von der Mitwirkung der Stände verfassungs-
mäßig oder nach besonderer Gesetzesbestimmung freien Rechtsgebiete erlassen worden ist.
Gesetz im formellen Sinne des badischen Staatsrechtes ist sie nicht.
Es richten sich die Voraussetzungen, unter welchen und die Formen, in welchen das
Staatsoberhaupt befugt ist, eine Rechtssatzung als „Gesetz“ zu erlassen, nach denjenigen Be-
stimmungen der Verfassung, welche zur Zeit der Erlassung des Gesetzes in Kraft find.
Hiernach ist in Baden zu unterscheiden zwischen der Zeit vor und seit der Einführung
der Verfassung vom 22. Aug. 1818.
Vor diesem Zeitpunkte war das Staatsoberhaupt befugt, für sich allein, ohne Mit-
wirkung anderer Organe des Staates, allgemein verbindliche Rechtssatzungen zu erlassen.
Diejenigen seiner unmittelbaren Erlasse, welche solche Rechtssatzungen enthalten, unter-
scheiden sich daher äußerlich nicht von denjenigen anderen Inhaltes. Entscheidend für die
Frage, ob ein Gesetz vorliegt, ist deshalb nur der Inhalt.
In dieser Beziehung ist unzweifelhaft, daß diejenigen von dem Staatsoberhaupt er-
lassenen allgemeinen Rechtssatzungen, welche „die Freiheit der Personen oder das Eigenthum
der Staatsangehörigen betreffen“, — diese Worte im weitesten Sinne genommen — als
Gesetze zu betrachten sind. Denn dadurch, daß die V. U. G§# 65) die Erlassung von Rechts-
satzungen hierüber nur im Wege der Gesetzgebung zuläßt, schützt sie die seither vom Staats-
oberhaupt allein erlassenen gleich den nach der Einführung der Verfassung ergangenen Ge-
setzen. Hiernach ist vor Allem die Verfassung selbst ein Gesetz. Diese hat außerdem einzelne
Rechtssatzungen unter ihren besonderen Schutz gestellt und sie dadurch ihrem ganzen Umfange
nach für Gesetze erklärt.
Anderseits folgt aus der angeführten Bestimmung des § 65 d. V. U., daß solche An-
ordnungen des Staatsoberhauptes, welche nach den Bestimmungen der Verfassung von diesem
allein getroffen werden könnten, nicht als Gesetze im heutigen Sinne zu betrachten sind. Für
den Fall, daß eine vor der Einführung der Verfassung vom Staatsoberhaupt erlassene Verord-
nung Bestimmungen verschiedenen rechtlichen Charakters enthalten sollte, ergiebt sich hieraus:
1. Hat die Verordnung grundsätzlich den Zweck, Rechtsnormen hinsichtlich der „Frei-
heit der Personen oder des Eigenthums der Staatsangehörigen“ zu treffen, so ist sie ihrem
ganzen Inhalt nach, ohne Ausscheidung einzelner Bestimmungen anderen rechtlichen In-
haltes, Gesetz.
2. Hat sie einen andern Zweck, so sind nur diejenigen in dieselben eingeflossenen
Bestimmungen, welche die oben (1.) erwähnten Rechtsbeziehungen normiren, gleich einem
Gesetz zu behandeln.
Seit der Einführung der Verfassung ist das Staatsoberhaupt an die Zustimmung
der Landstände gebunden, bei der Erlassung solcher Verordnungen, welche entweder
a) die Verfassung oder solche Gesetze abändern, die kraft ausdrücklicher Bestimmung
als Verfassungsgesetze gelten, oder
b) die Freiheit der Personen oder das Eigenthum der Staatsangehörigen betreffen,
sei es, daß in dieser Beziehung neue allgemeine Rechtsnormen erlassen oder die bestehenden
abgeändert oder authentisch erläutert werden sollen ½), ferner
1) Die Begriffe „Freiheit der Personen“ und „Eigenthum“ find im weitesten Sinne zu nehmen,
sodaß überhaupt alle allgemeinen Vorschriften, welche den Staatsangehörigen Lasten auferlegen oder
die freie Bewegung derselben beschränken, auf einem Gesetze entweder unmittelbar oder — wie z. B.
bei den polizeilichen Vorschriften — in dem Sinne mittelbar beruhen müssen, daß zur Erlassung
derselben ein Gesetz die Ermächtigung gegeben hat. Vorschriften, die nur das Verfahren der Be-
hörden innerhalb des Organismus derfelben regeln, die also nur den eigenen Organen der Staats-
regierung Verpflichtungen auferlegen, können im Verordnungswege erlassen werden.