872. Rechtsgiltigkeit von Gesetzen und Verordnungen. 171
gegangen sind, die richtige ist. Wenn also z. B. ein Gesetz als gewöhnliches Gesetz zu Stande
gekommen und verkündet worden ist, so steht es dem Richter nicht zu, dasselbe etwa des-
wegen zu beanstanden, weil es nach seiner Ansicht als Verfassungsgesetz hätte behandelt
werden sollen, oder weil es der Verfassung widerspreche oder weil es als „die Finanzen
betreffender Gesetzes-Entwurf“ zu behandeln gewesen wäre.
Anders nur in dem Ausnahmefall, wenn ein Gesetz sich selbst als Aenderung der
Verfassung ankündigt, aber anderseits behauptet und nach notorischen Thatsachen wahr-
scheinlich ist, daß bei dessen Zustandekommen die für solche Gesetze vorgeschriebene Mehr-
heit nicht vorhanden gewesen ist, d. h. nicht das für solche Gesetze allein zuständige Organ
sich ausgesprochen hat. Hier bedarf es bei der eigenen Erklärung der gesetzgebenden Fak-
toren keiner Auslegung dessen mehr, welcher Charakter dem Gesetz zukommt. Der Richter
braucht also nur noch die Thatsache festzustellen, ob das Gesetz in den Formen zu Stande
gekommen ist, welche die gesetzgebenden Faktoren für nothwendig halten mußten. Zu dieser
ganz objektiven Prüfung und Feststellung aber muß der Richter befugt sein, weil er mit
derselben nur den wahren Willen des Gesetzgebers zur Geltung bringt.
Mit den eben bezeichneten beiden Schranken wird auch Gesetzen gegenüber das Prüfungs-
recht des Richters anzuerkennen sein. Insbesondere muß dieses Prüfungsrecht in dem Ver-
hältniß der Landesgesetzgebung zur Reichsgesetzgebung anerkannt werden. Die Bestimmung
des Art. 2 der Reichsverfassung, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, be-
schränkt einerseits die Souveränetät der Landesgesetzgebung und setzt anderseits die Mög-
lichkeit voraus, daß die Landesgesetzgebung mit der Reichsgesetzgebung nicht übereinstimme.
Für diesen Fall gebietet eben diese Bestimmung dem Richter, nur das Reichsrecht zur An-
wendung zu bringen. Diese seine Pflicht macht die Prüfung, ob im einzelnen Falle das
Landesgesetz mit dem Reichsrechte sich in Uebereinstimmung befinde, geradezu unerläßlich.
2. Prüfung der Verordnungen. Für ein besonderes Gebiet der staatlichen Thätig-
keit, dasjenige der Polizei, enthält die badische Gesetzgebung in Pol. Str. G. B. § 24 ausdrück-
liche Bestimmungen über das richterliche Prüfungsrecht dahin:
„Keine Verordnung darf mit Gesetzen, keine orts= oder bezirkspolizeiliche Vorschrift
darf mit Gesetzen oder mit den über denselben Gegenstand zulässigen V ,ordnungen oder
zuständig erlassenen Vorschriften einer höheren Behörde in Widerspruch ehen.
Die Polizeigerichte können zwar die gesetzliche Giltigkeit, nicht aber die Nothwendig-
keit oder Zweckmäßigkeit polizeilicher Verordnungen oder Vorschriften ihrer Prüfung unter-
ziehen“.
Die Polizeigerichte, d. h. die Gerichte, insofern sie Polizeistraffälle — Uebertretungen
— aburtheilen, haben hiernach jedenfalls die formelle Frage zu prüfen, ob die Verord-
nung soweit nach den äußeren Merkmalen zu beurtheilen, ordnungsmäßig erlassen worden,
also ob sie von der zuständigen Behörde ausgegangen und ordnungsmäßig verkündet worden
ist. Außerdem aber haben sie den Inhalt der Verordnung dahin zu prüfen, ob nicht ein
Gesetz etwas Anderes bestimmt habe.
In dieser Prüfung ist der Richter Angesichts der klaren Bestimmung von Pol.Str. G. B.
§24 auch durch etwaige Beschlüsse der Kammern, eine Verordnung nicht zu beanstanden,
formell nicht gehindert, so groß das Gewicht solcher Beschlüsse für seine sachliche Ent-
scheidung auch sein mag.
Dagegen hat sich die Prüfung nicht auch darauf zu erstrecken, ob trotzdem daß ein
Widerspruch gegen ein bestehendes Gesetz nicht vorliegt, der Gegenstand etwa seiner Natur
nach nicht vielmehr im Wege des Gesetzes hätte geregelt werden sollen. Der Austrag dieser
Frage ist nach den oben unter I. und IV. Ziff. 2 aufgestellten Grundsätzen lediglich den
Ständen anheim zu geben.