308 Sechster Abschnitt: Die Landesverwaltung. IV. Kapitel. 8 150.
Darnach ist Folgendes Rechtens:
1. Jeder Landeseinwohner genießt der ungestörten Gewissensfreiheit, d. h. kein Lan-
deseinwohner ist irgend Jemanden, sei es eine Behörde, sei es eine Privatperson, darüber
Rechenschaft schuldig, zu welcher Religion, ob überhaupt zu irgend einer Religion, er sich
bekennt, soweit er nicht selbst aus der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft Rechte
ableiten oder in Folge der Nichtzugehörigkeit zu einer solchen Verbindlichkeiten ablehnen
will. Noch weniger kann Jemanden die Annahme irgend eines Glaubensbekenntnisses ver-
boten oder durch lästige Bedingungen oder Rechtsfolgen erschwert oder kann Jemand zur
Annahme eines bestimmten Glaubensbekenntnisses gezwungen werden oder zum Verbleiben
bei demselben oder auch nur zur Theilnahme an den religiösen Handlungen desselben.
Vorausgesetzt ist jedoch hierbei stets, daß das Alter der religiösen Mündigkeit be-
reits erreicht, d. i. das 16. Lebensjahr zurückgelegt ist. So lange ein Kind dieses Alter
noch nicht erreicht hat, unterliegt dasselbe dem religiösen Erziehungsrechte Der-
jenigen, welchen die Erziehungsrechte überhaupt zustehen ). Und zwar bestimmt, in welcher
Religion die Kinder erzogen werden sollen, bei ehelichen Kindern der Vater, bei unehelichen
Kindern, sie seien vom Vater anerkannt oder nicht, die Mutter.
Ist eine Bestimmung hierüber nicht getroffen, so folgen die ehelichen Kinder der
Religion des Vaters, die unehelichen Kinder der Religion der Mutter. Sind die Eltern
unbekannt, so entscheidet über die religiöse Erziehung des Kindes der Vormund mit Zu-
stimmung der Staatsbehörde. Eine Aenderung in der religiösen Erziehung der ehelichen
Kinder steht der Mutter zu, wenn auf sie das Recht der Erziehung übergegangen ist;
jedoch kann sie diese Aenderung nur mit Genehmigung der Staatsbehörde vornehmen. Bei
Waisen darf eine Veränderung der Religion nur aus besonders erheblichen Gründen mit
Genehmigung der höheren Staatsbehörde und nach eingeholtem Gutachten der nächsten
beiderseitigen Verwandten 2c. eintreten. Während dieser Zeit der religiösen Unmündigkeit
findet auch von Staatswegen ein Zwang zur Theilnahme am Religionsunterricht statt,
soweit derselbe Gegenstand des lehrplanmäßigen Unterrichtes in einer öffentlichen Schule ist.
Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses besteht aber nur innerhalb der
allgemeinen Staatsordnung, sie berechtigt Niemanden, sich außerhalb derselben zu stellen,
sei es durch Verübung von Handlungen, welche durch die allgemeinen Staatsgesetze ver-
boten, sei es durch Unterlassung von Handlungen, welche durch die allgemeinen Staats-
gesetze geboten sind. In letzterer Beziehung ist jedoch durch einzelne Staatsgesetze den
religiösen Anschauungen einzelner Genossenschaften besondere Rücksicht getragen worden.
2. Die Gottesverehrung ist frei und steht für Alle unter dem gleichen Schutze
des Staates (V.U. § 18). Niemand also darf an der seinen Anschauungen entsprechenden
Art der Gottesverehrung, sei es durch Einzelne, sei es durch die Behörden verhindert, kein
Religionsmündiger zu einer bestimmten Art der Gottesverehrung von Staatswegen ge-
zwungen werden. Der Staat schützt die Ausübung der Gottesverehrung durch seine Straf-
gesetze und Polizeiverordnungen.
Der vereinigten evangelisch-protestantischen und der römisch-katholischen Kirche (ein-
schließlich der Altkatholiken) ist das Recht der öffentlichen Gottesverehrung (s. u.) ge-
währleistet. Die Befugnisse der übrigen Religionsgemeinschaften, welche schon vor 1860
im Großherzogthum ausgenommen oder geduldet waren, richten sich nach den ihnen er-
theilten besonderen Verwilligungen. Auch den seitdem neu gebildeten Vereinen steht das
Recht der freien Gottesverehrung unter dem Schutze des Staates zu ?.
1) Ges. v. 9. Okt. 1860, die rechtl. Stellung dex Kirchen 2c. § 5, angef. Ges. v. 9. Okt. 1860 üb.
d. relig. Erziehungsrechte.
11 4 Ge v. 9. Okt. 1860, d. rechtl. Stellung 2c. §§ 1—3; Altkath. Ges. v. 15. Juni 1874, Art.
u. 2 (s. u.).