Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.3. Das Staatsrecht des Großherzogtums Baden. (3)

§152. Rechtliche Stellung der vereinigten evangelisch-protest. und der römisch-kathol. Kirche. 315 
1. kann keine Verordnung, d. h. allgemeine Anordnung der Kirchen, welche in bürger- 
liche oder staatsbürgerliche Verhältnisse eingreift, rechtliche Geltung in Anspruch nehmen 
oder in Vollzug gesetzt werden, bevor sie Genehmigung des Staates erhalten hat ) 
Alle kirchlichen Verordnungen müssen gleichzeitig mit der Verkündung der Staats- 
regierung mitgetheilt werden. 
2. Verfügungen und Erkenntnisse der Kirchengewalt können gegen die Freiheit oder 
das Vermögen einer Person wider deren Willen: 
a) nur von der Staatsgewalt und 
b) nur unter der Voraussetzung, daß sie von der zuständigen Staatsbehörde für voll- 
zugsreif erklärt worden sind, vollzogen werden ?. 
VI. Die Kirchen existiren rechtlich nur innerhalb des Staates und nach Maß- 
gabe seiner Gesetze und sind ihm und seinen Gesetzen gleich allen anderen im Staate 
vorhandenen Persönlichkeiten unterthan. Es bleiben also, wie das Gesetz vom 9. Okt. 1860 
ausdrücklich hervorhebt, in ihren bürgerlichen und staatsbürgerlichen Beziehungen die Kirchen, 
deren Anstalten und Diener den Staatsgesetzen unterworfen. Keine Kirche kann aus ihrer 
Verfassung oder ihren Verordnungen Befugnisse ableiten, welche mit der Hoheit des Staats 
oder mit den Staatsgesetzen im Widerspruch stehen. 
VII. Amtsmißbrauch Seitens der Diener einer der Kirchen ist, abgesehen von 
den im Reichsstrafgesetzbuch in Bezug auf Vergehen der Religionsdiener überhaupt gegen 
die öffentliche Ordnung enthaltenen Strafbestimmungen und den schon oben erwähnten bezüg- 
lich der unbefugten Uebertragung oder Ausübung eines Kirchenamtes oder kirchlicher Funk- 
tionen, noch besonders mit Strafe bedroht hinsichtlich der gesetzwidrigen Invollzugsetzung 
kirchlicher Verfügungen, der gesetzwidrigen Verhängung oder Anwendung kirchlicher Straf- 
oder Zuchtmittel in staatlichen Angelegenheiten, der Anwendung der kirchlichen Autorität 
zu Wahlzwecken. # 
Wegen solchen Amtsmißbrauchs wiederholt bestraften Geistlichen kann durch einen 
besonders hierzu bestellten Gerichtshof (verstärktes Staatsministerium) die Fähigkeit zur 
ferneren Bekleidung ihres Amtes und das damit verbundene Einkommen aberkannt werden. 
1) Das sog. landesherrliche Placet, d. h. die Vorschrift, wornach alle Verordnungen einer 
Kirchengewalt, gleichgültig, welches ihr Inhalt ist, vor ihrer Verkündigung der Staatsregierung 
behufs der Genehmigung vorgelegt werden müssen, besteht hiernach in Baden nicht mehr, selbst 
nicht für solche Verordnungen, d. h. Anordnungen zur allgemeinen Befolgung, mit welchen die Kirchen- 
gewalt eine Wirksamkeit auf bürgerliche oder staatsbürgerliche Verhältnisse beabsichtigen sollte. 
Eintreten aber kann rechtlich eine solche Wirksamkeit nicht, bevor die kirchliche Verordnung die staat- 
liche Genehmigung erhalten hat. Dagegen bezieht sich die Vorschrift über die gleichzeitige Mitthei- 
lung an die Staatsregierung auf alle kirchlichen Verordnungen. 
2) Den Kirchen ist also eine Verfügungsgewalt gegen ihre Angehörigen nicht abgesprochen, 
insbesondere nicht eine Strafgewalt, und es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß die Kirche ihren An- 
gehörigen in Ausübung dieser Kirchengewalt das Erdulden materieller Uebel zumuthe. Und insolange 
sich der Kirchenangehörige diesen kirchlichen Verfügungen freiwillig unterwirft, bekümmert sich der 
Staat um solche nicht. Erst wenn die Kirchengewalt zum Vollzug ihrer Verfügungen Zwang, und 
zwar Zwang gegen die Freiheit oder das Vermögen einer Person angewendet wissen will, ist die 
Befugniß der Kirchengewalt zu Ende und beginnt jene des Staates. Das Eingreifen des letzteren 
kann veranlaßt werden entweder a) durch das Begehren der Kirchengewalt, ihre Verfügung durch die 
weltlichen Zwangsmittel und die staatlichen Organe zu vollziehen; oder b) durch Anrufung staat- 
lichen Schutzes Seitens eines Kirchenangehörigen gegen von der Kirchengewalt gemachte Zwangs- 
versuche. In beiden Fällen läßt die Staatsbehörde ihrer Entschließung eine vollständige Prüfung 
des Sach= und Rechtsverhältnisses vorhergehen. 
Unter dem Ausdruck: „Vermögen“ ist Alles begriffen, was Gegenstand des Besitzes und Ein- 
kommens ist, also auch ein Pfründe= oder Amtseinkommen, in dessen Besitz folgeweise ein kirchlich 
mit dessen Entziehung Bestrafter dann geschützt werden kann, wenn die Entziehung mit Unrecht aus- 
gesprochen worden ist. 
Zuständige Staatsbehörde ist, da die kirchlichen Straferkenntnisse den Charakter von Dis- 
ziplinarstraferkenntnissen haben, die Staatsverwaltungsbehörde. 
3) §§ 16a—d d. Ges. v. 9. Okt. 1860 in d. Fassung v. 1874.
	        
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