82 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. IV. Kapitel. 45.
Das Recht der Anklage erlischt drei Jahre von dem Zeitpunkte, wo die verletzende
Handlung zur Kenntniß des Landtages gekommen ist, wenn die Zweite Kammer jenes Recht
nicht wenigstens durch den Beschluß, den Antrag auf Erhebung einer Anklage in Betracht
zu ziehen, gewahrt hat.
Die Anklage kann ferner nicht mehr erhoben werden, wenn die Mehrheit der Zweiten
Kammer jene Handlung gebilligt hat .
Die Erhebung einer solchen Anklage setzt voraus, daß zunächst ein hierauf gerichteter
Antrag von mindestens zehn Mitgliedern in der Zweiten Kammer eingebracht und durch
Angabe bestimmter Thatsachen begründet, hierauf in einer Kommission von mindestens
sieben Mitgliedern nach näherer Erhebung des Thatbestandes und Erörterung desselben mit
dem Beschuldigten und den übrigen Regierungskommissären berathen und die Anklage unter
schriftlicher Formulirung beantragt, sodann hierüber in der Kammer in nicht abgekürzter
Form unter Anhörung des Beschuldigten berathen und Beschluß gefaßt worden ist).
Ein auf Erhebung der Anklage lautender Beschluß setzt die für Verfassungsänderungen
vorgeschriebene Stimmenzahl voraus. Die Zurücknahme desselben kann mit einfacher Stimmen-
mehrheit geschehen.
Die während der Ständeversammlung von der Zweiten Kammer beschlossene Anklage
wird auch nach der Vertagung oder dem Schlusse des Landtages von den erwählten Kom-
missären verfolgt und die Erste Kammer gilt in Beziehung auf diesen Gegenstand nicht
als vertagt oder geschlossen.
Dasselbe gilt von der Auflösung der Ständeversammlung, jedoch wird die Schluß-
verhandlung und Entscheidung über die Anklage bis nach Ablauf der in § 44 der V. U.
festgesetzten Frist verschoben.
Hat zur Zeit der Einberufung einer neuen Ständeversammlung der Staatsgerichtshof
das Urtheil noch nicht gefällt, so wird derselbe neu gebildet und die Zweite Kammer wählt
auf's Neue die Kommissäre zur Vertretung der Anklage.
Erfolgt jetzt eine abermalige Auflösung, so bleibt die von der Zweiten Kammer ge-
wählte Kommission zur Vertretung der Anklage ermächtigt und ebenso der Staatsgerichtshof
in dem früheren Bestand.
Das Richteramt über die erwähnte Anklage übt die Erste Kammer als Staats-
gerichtshof in Verbindung mit dem Präsidenten des obersten Gerichtshofs und acht weiteren
Richtern aus, welche aus den Kollegialgerichten durch das Loos bezeichnet und der Ersten
Kammer beigeordnet werden.
Dem Angeklagten und den Vertretern der Anklage steht ein Ablehnungsrecht zu.
Der Präsident der Ersten Kammer hat den Vorsitz. Sein Stellvertreter ist der Präsi-
dent des obersten Gerichtshofes 3).
Ist auch der Letztere verhindert, so tritt bis zur Bildung des Staatsgerichtshofes
der zweite Vorsteher des Oberlandesgerichtes an seine Stelle; nachher wählt der Staats-
gerichtshof den Stellvertreter durch relative Stimmenmehrheit aus seiner Mitte.
Bei der Verhandlung und Entscheidung über die Anklage müssen außer dem Präsi-
denten mindestens 18 Mitglieder des Staatsgerichtshofes und darunter mindestens 12 Mit-
glieder der Ersten Kammer ununterbrochen anwesend sein.
Die sämmtlichen Mitglieder des Staatsgerichtshofes sind zur Theilnahme an den
Funktionen desselben verpflichtet.
Der Versammlungsort des Staatsgerichtshofes ist die Residenzstadt.
1) V. U. § 67 f. 2) Angef. Ges. v. 11. Dez. 1869, §88§ 1—6.
3) V.U. §8 67 b, d, e. Näheres über die Bildung des Staatsgerichtshofes auf Grund von auf-
zustellenden Listen s. in §§ 7—15 der angef. Ges. v. 11. Dez. 1869.