Das Strafrecht
Von Ministerialdirektor a. D., Wirklichem Geheimem Nat Dr. Lucas
Bei dem Regierungsantritt unseres Kaisers stand die juristische Welt unter dem
Zeichen der Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und, nachdem dieses zustande
gebracht war, unter demjenigen der reichs- und landesrechtlichen Einführungs- und
Ausführungsgesetze. Es war natürlich, daß daneben weder die Gesetzgebung noch die
Offentlichkeit sich viel mit dem Strafrecht beschäftigen konnten, zumal das Strafgesetz-
buch vom 15. Mai 1871 damals noch nicht gerade als veraltet galt, und überall die Ein-
sicht herrschte, daß gleichzeitige Reformversuche auf dem strafrechtlichen Gebiete vom-
UÜbel und undurchführbar wären. Diejenigen, welche schon damals solche Reformen
als notwendig bezeichneten, und es fehlte nicht an solchen, nahmen sie nur für die Zukunft
in Aussicht. Desto lebhafter und verbreiteter setzten diese Forderungen ein, nachdem im
Beginn des neuen Jahrhunderts durch den Abschluß der Umgestaltung des bürgerlichen
Rechts die Bahn für das Strafrecht wieder frei geworden war. Gerade aber dieses
eifrige Verlangen nach einer ähnlich durchgreifenden Umarbeitung auch des Straf-
rechts, nach einer „Reformation an Haupt und GEliedern“ mußte auf dem Gebiet
der Gesetzgebung einstweilen mit Notwendigkeit zu dem nämlichen Ergebnis führen,
wie vorher die Zusammenfassung aller Kräfte in der Richtung auf ein anderes Ziel:
nämlich zur Zurückstellung aller nicht besonders dringlichen Anderungen in Einzeln-
heiten. Denn eine jede solche Anderung konnte in einem gewissen Umfange der künftigen
allgemeinen Neuordnung vorgreifen und sie beeinträchtigen. So erklärt es sich, daß
auch in dieser bis auf die Gegenwart reichenden Periode, ebenso wie in der vorigen, die
Zahl der wirklich zustande gekommenen Gesetze auf dem Gebiete des Strafrechts nur
mäßig, und daß diese selbst nicht gerade von grundlegender Bedeutung sein konnten.
Eigentümlicherweise wandten sich die praktischen Reformbestrebungen, obwohl die
Strafprozeßordnung das neuere Gesetz war, zunächst nicht dem materiellen Recht,
sondern dem Prozeß zu, in dem man Aängel gefunden zu haben glaubte, deren Be-
seitigung keinen Aufschub duldete. Wie diese Bestrebungen, trotz mancher gelungener
Verbesserungen im einzelnen, bisher noch nicht zum Ziele geführt haben, wird nachher
bei Betrachtung des Strafprozesses näher geschildert werden.
Es war nicht die Erkenntnis der großen Schwierigkeiten einer grundlegenden AInde-
rung des formalen Rechts allein, die bald sowohl das öffentliche Interesse als auch die
Tätigkeit der Regierung auf die Reform des materiellen Strafrechts hinlenkten, sondern
es war eigentlich die Vernunft der Sache selbst. Denn wenn sowohl materielles Recht,
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