Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
48 Seemacht und Kriegsflotte. IV. Buch. 
  
jedem Schritte, der sie weiter führt, damit man nicht gezwungen ist, sie abzubrechen, 
weil man sich zu weit vorgewagt hat. Nur so kann man einem Rückzuge und vielleicht 
einer Einbuße an Ansehen vorbeugen. Solch Verzichten oder vorsichtiges Einlenken wird 
aber schwieriger, ja vielleicht ummöglich, wo Lebensfragen für uns auf dem Spiele stehen. 
Und da bleibt denn zu bedenken, daß, welchen Gang solch ein Krieg dann auch nehmen 
mag, schließlich doch kein Staat unter den wirtschaftlichen Folgen eines Weltkrieges 
schwerer leidet als England. Impavidcum ferient ruinae! 
So ergeben sich für einen kriegerischen Zusammenstoß mit England, wie er uns 1911 
naherückte, militärisch-politische Grenzwerte, in die jeder Fall je nach den Umständen 
einzufügen sein wird, wenn man erkennen will, wieweit der Politiker unter vollem Ein- 
setzen des Druckmittels, das unfre Flotte bietet, gehen darf, ohne den Krieg herbeizuführen, 
oder welchen Erfolg ein Krieg verspricht. Dies für die Ereignisse von 1911 nachträglich zu 
tun, wäre zwecklos. Hier kommt es nur darauf an, die Beziehungen festzulegen zwischen der 
Politik und dem Kriegswert der Flotte. Aber wir wollen dankbar dafür sein, daß es zu 
einem Einsetzen unserer Flotte nicht gekommen ist zu einer Zeit, da sie ihre volle Schlagkraft 
noch nicht erlangt hatte, und bei einer Gelegenheit, da es sich doch um Bestehen und Ver- 
gehen des Reiches nicht handelte. Drum muß auch die öffentliche Meinung in Deutschland 
bei solchen Anlässen ihre Ruhe bewahren und die Dinge mit richtigem Maßstabe messen. 
England und Heutschland Wenn man einen hinter uns liegenden Zeitabschnitt 
in seiner Gesamtheit erfassen will, so darf man den 
stets in Fluß befindlichen politischen Tagesvorgängen 
nicht zu große Bedeutung beilegen, trotzdem verdienen die Verhandlungen über die 
FKlottenforderungen beider Länder für das Jubiläumsjahr 1915 der Erwähnung, weil 
sie einen gewissen Abschluß der Stellung Deutschlands zu England bedeuten. 
Als der Staatssekretär des Reichsmarineamtes auf eine Anfrage in der Budget- 
kommission des Reichstages erklärte, ein vom ersten Lord der Admiralität 1912, wenn 
auch unter allerlei Vorbehalten besprochenes Stärkeverhältnis von 16 zu 10 zwischen 
den beiderseitigen Schlachtflotten sei für die nächsten Zahre annehmbar, da ging es wie 
ein Aufatmen durch einen Teil der englischen Presse. Solch Stärkeverhältnis war ja 
von uns noch nie erreicht worden, Großadmiral v. Tirpitz konnte es ruhig akzeptieren. 
Er sagte den Engländern damit aber eigentlich auch nichts anderes, als was ihnen als der 
Sinn unseres Flottengesetzes schon längst hätte bekannt sein können. Daß der Nisiko- 
gedanke, der unseren Rüstungen zugrunde liegt und der England von einem Kriege 
gegen uns abhalten soll, klarer zutage tritt, wo er sich in bestimmte Zahlen kleidet, ist 
ja verständlich. Aber wer will solche Rechnungen prüfen in einer Zeit, da auch die 
englischen Kolonien für das Mutterland Schlachtschiffe bauen? 
Im übrigen waren lange Begründungen für den neuen Etat im Reichstage nicht 
nötig. Bewegten sich doch die Forderungen ganz im Rahmen des Flottengesetzes und 
seiner Novellen, wie sie, zum Teil unter dem Einfluß des an politischen Erregungen so 
reichen Zahres 1911, zustandegekommen und bereits genehmigt waren. Daß an dem 
von langer Hand her Beschlossenen das zeitweilige politische Zusammengehen der beiden 
  
im Zubiläumsjahr. 
  
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