Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. I. Einführung. 5#9 
  
in Konfliktsmomenten mit elementarer Hitzigkeit gegeneinander zu rennen und sich nicht 
selten zu Exzessen hinreißen zu lassen, die wir Deutschen nicht kennen. Aber der leiden- 
schaftlichen Entladung, die über Sieg und Niederlage einer Partei oder Parteigruppierung 
entscheidet, pflegt dort bald eine Annäherung und Aussöhnung zu folgen. Anders bei uns. 
Oie wilde, fanatische Leidenschaft erregter Kämpfe, die sich wie ein Gewitter entlädt, 
aber auch gleich einem Gewitter die parteipolitische Luft reinigt, fehlt unseremm deutschen 
Parteileben. Aber es fehlt ihm auch die leichte Versöhnlichkeit. Wenn deutsche Parteien 
einmal in Opposition gegeneinander gestanden haben, und es braucht dabei gar nicht um 
die letzten Dinge des politischen Lebens gegangen zu sein, so vergessen sie das einander nur 
schwer und langsam. Die einmalige Gegnerschaft wird gern zur dauernden Feindschaft 
vertieft, es wird womöglich nachträglich ein prinzipieller Gegensatz der politischen Grund- 
anschauungen konstruiert, der ursprünglich den verfeindeten Parteien gar nicht bewußt 
gewesen ist. Oft, wenn besonnenen und wohlgemeinten Ausgleichs- und Verständigungs- 
versuchen der unüberwindliche Gegensatz der Uberzeugungen entgegengehalten wird, 
ist dieser Uberzeugungsgegensatz erst entdeckt worden nach sehr nahe zurückliegenden Partei- 
konflikten, bei denen es entweder um nebengeordnete Fragen der nationalen Politik 
oder gar um parteipolitische Machtfragen ging. Wer ein wenig jenseits des Parteigetriebes 
und Parteizauns steht, begreift oft nicht, warum unsere Parteien für die Erledigung von 
an sich unbedeutenden Fragen der Gesetzgebung nicht zusammenkommen können, warum 
sie geringfügige Meinungsverschiedenheiten über Details der Finanz-, Sozial- oder 
Wirtschaftspolitik mit einer Feindseligkeit ausfechten, als gälte es, Bestehen und Vergehen 
des Reichs. Gewiß spielt da die löbliche deutsche Gewissenhaftigkeit im kleinen mit, aber 
sie entscheidet nicht. Entscheidend ist die Tatsache, daß den einzelnen Parteien die Ab- 
neigung gegen die Nachbarpartei wesentlicher ist als die in Frage stehende gesetzgeberische 
Aufgabe, die oft nur als willkommene Gelegenheit ergriffen wird, den vorhandenen 
parteipolitischen Gegensatz recht nachdrücklich zu unterstreichen. " 
Deutscher Parteisinn und Im ursächlichen Zusammenhange mit der Unver- 
deutsche Parteitreue träglichkeit der Parteien untereinander steht die uner- 
schütterliche Treue innerhalb der Parteien. Eben, weil 
der deutsche Parteimann so fest, ja liebevoll der eigenen Partei anhängt, ist er so 
intensiver Abneigung gegen die anderen Parteien fähig und vergißt so schwer die einmal 
von ihnen erlittenen Kränkungen und Niederlagen. Auch hier im modernen Gewande 
eine Wiederkehr der alten deutschen Art. Wie die Stämme, die Staaten ineinander zu- 
sammenhielten und sich untereinander nicht vertragen konnten, so heute die Parteien. 
Die sprichwörtliche deutsche Treue kommt dem kleinen politischen Verbande in erster 
Linie, erst in zweiter Linie der großen nationalen Gemeinschaft zugute. Um die reiche 
Anhänglichkeit, die der Parteisache von selbst zuströmt, wird eine deutsche Regierung meist 
vergeblich werben. Das hat selbst Bismarck erfahren müssen. Der Bezwinger dee staat- 
lichen Partikularismus hat des Partikularismus der Parteien nicht Herr werden können. 
Trotzdem er Vertrauen und Liebe des deutschen Volkes in einem Maße gewonnen hatte wie 
kein anderer, ist Fürst Bismarck im Wettbewerb mit der Anhänglichkeit, die dem Partei- 
  
  
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