98 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch.
Während man so die mikroskopische Grundlage der Fortpflanzung
durch sorgfältige Beobachtungen immer genauer feststellte, läuft
parallel damit gerade in den Tagen unsres Zahrhunderts der Versuch, durch das
Experiment die Bedeutung der Trennung der Geschlechter in der Fortpflanzung zu
ergründen. Diese Versuche knüpfen meistens an die schon erwähnte Entdeckung des
Augustinermönchs von Brünn, Gregor Mendel, an. Zahllose Versuche haben immer
wieder den Satz bestätigt, daß in vielen Fällen, wenn man zwei Individuen ver-
schiedener Pflanzenrassen miteinander paart, eine Zwischenrasse entsteht, die bei
nachher angewandter Inzucht im Laufe der nächsten Generationen in die ursprüng-
lichen, sogenannten reinen Rassen wieder aufspaltet, und zwar nach einem bestimmten
Zahlenverhältnis. Man hat aber auch mehr und mehr Ausnahmen gefunden, die sich
der Spaltungeregel Mendels nicht fügen, und es sind die Arbeiten im Fluß, welche
dies verschiedenartige Verhalten auf eine gemeinsame Grunderscheinung zurückzuführen
suchen. Das so wichtige züchterische Problem wurde dann neuerdings von einer anderen
Seite in Angriff genommen. An Beobachtungen des dänischen Botanikers Johannsen
anknüpfend, sucht man Generationen von Pflanzen in „reinen Linien“ zu kultivieren,
d. h. man erzielt Samenkörner, die durch Selbstbefruchtung eines und desselben Indi-
viduums entstanden sind, und deren Nachkommen auch nur auf dem gleichen Wege fort-
gepflanzt werden. Hierdurch gewinnt man beliebig lange Reihen von Generationen,
deren Individuen sich durch gar keine morphologisch in Betracht kommende Merkmale
voneinander unterscheiden, in denen also eine Beständigkeit der Art sich zu erkennen gibt.
Schon lange hatte die gärtnerische Prazis gelehrt, daß die so vielfache Neuentstehung
bis dahin unbekannter Nassen von Rutzpflanzen und Zierpflanzen teils auf einer sprung-
weisen Abänderung, d. h. einer in deutlichen Merkmalen von der Stammpflanze sich
unterscheidenden Varietät beruht, teils auf Kreuzung verschiedener Rassen und sogar
Arten miteinander bei der Befruchtung, wobei Bastarde entstehen, die für die Gärtner
wertvolle Eigenschaften besitzen. Diese Erscheinungen haben in den letzten beiden Zahr-
zehnten das Interesse der Botaniker ganz besonders in Anspruch genommen, und auf wenig
Gebieten wird gegenwärtig so lebhaft gearbeitet, wie auf diesem. Dabei wurde eine
höchst interessante Entdeckung gemacht, an der ich nicht vorübergehen möchte. Es gibt
einige Gewächse, von denen es bieß, daß sie nicht durch Kreuzbefruchtung zweier Arten
entstanden seien, sondern dadurch, daß man eine Art auf die andre pfropfte. Man nannte
sie Pfropfbastarde. So findet sich in den Gärten eine Abänderung des Goldregens, die
man seit langer Zeit für einen Pfropfbastard des gewöhnlichen Goldregens und des
purpurrot blühenden Goldregens, eines kleinen Strauches des Alpengebiets, gehalten
hat. Diese Mittelform wollte sich aber künstlich nicht wieder hervorrufen lassen. Da er-
Chimären. zielte H. Winkler durch Pfropfung von Nachtschatten auf die Tomaten--
—— *3¾5 pflanze ein Gewächs, das halb Nachtschatten und halb Tomate war,
ohne daß sich aber die Eigenschaften der beiden Stammpflanzen miteinander vermengt
hätten; der Entdecker nannte diese neue, durch das Experiment geschaffene Pflanzen-
form eine Chimäre. Später gelang es, andre Chimären zu gewinnen, bei denen die
Verbindung der Eigenschaften der beiden Stammpflanzen eine viel innigere war,
Fortpflanzung.
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