Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XSuc. Physikalische Chemie. 181 
  
heit zugunsten der letzteren Annahme, der körnigen Struktur der Materie, entschieden 
worden. Dieser Sieg der Atomistik ist auch für die phpsikalische Chemie bedeutungsvoll. 
Oenn wie die Chemie im ganzen ihre gewaltige Entwicklung zu einem guten Teil dem 
konsequenten Gebrauch und Ausbau der Atom- und Molekulartheorie, ihres ständigen 
Rüstzeuges, zuschreiben darf, so erwuchsen auch der phypsikalischen Themie ihre Erfolge, 
ebensosehr wie aus dem hoypothesenfreien Boden der Thermodynamik, aus Uberlegungen 
molekulartheoretischer Art. Aber die immerhin hypothetische Grundlage dieser letzteren 
Schlußweise erweckte bei Manchem Bedenken und drückte den Wert der Ergebnisse. Zetzt, 
nachdem die reale Ezistenz der Molekeln fast zur Tatsache geworden, kann neben die 
thermodpnamische Betrachtung die kinetische gleichwertig hintreten, eine um so mehr 
zu begrüßende Wendung, als der Kinetik manche Gebiete — es sei erinnert an die in 
der Zeit verlaufenden chemischen Vorgänge — offenstehen, die der reinen Thermo- 
dpnamil verschlossen sind. 
Die gebräuchliche scharfe Gruppierung der Stoffe in feste, 
flüssige, gasförmige hat gewisse Einschränkungen erfahren 
müssen. Schon früher hatten die Andreweschen Versuche (1869) über die kritischen 
Erscheinungen die Grenzen zwischen gasförmigen und flüssigen Körpern verwischt, und 
van der Waals konnte (1881) die „Kontinuität" des gasförmigen und flüssigen Zustandes 
in bewundernswerter Weise theoretisch behandeln. Neuerdings schlugen dann mannig- 
fache Erfahrungstatsachen weiter eine Brücke vom flüssigen zum festen Aggregatzustande 
insofern, daß sie die amorphen, also nicht kristallisierten festen Körper als unterkühlte 
Flüssigkeiten von sehr großer innerer Reibung ansehen ließen (Tammann 1903). Und 
endlich scheint es, als ob den in der Abteilung „fest“ dann allein noch übrigen Kreistallen 
ihr bedeutsamstes spezifisches Charakteristikum, die optische Anisotropie, auch nicht mehr 
ausschließlich vorbehalten bleiben sollte, seitdem auch „flüssige Kristalle“ gefunden wurden. 
Oiese optisch anisotropen Flüssigkeiten, deren Verhältnisse hauptsächlich durch O. Leh- 
mann, Schenk, Vorlaender, Bose studiert wurden, erregten berechtigte Aufmerk- 
samkeit, wenngleich manche ihrer Eigentümlichkeiten trotz vieler Bemühungen einer 
einwandfreien Heutung bis jetzt entbehren. 
Aggregatzustände. 
  
Besondere Zustände des Stoffes. Einer besonderen Aufmerksamtkeit erfreute 
sich das Studium des merkwürdigen Stoff- 
zustandes, den Graham in seinen grundlegenden Untersuchungen (1862) als Kolloid-- 
zustand bezeichnete. Sehr viele Stoffe vermögen in Lösungen diesen Zustand anzu- 
nehmen. Im Gegensatz zu den tppischen klaren Lösungen sind solche „kolloidale Lösungen“ 
mehr oder weniger trüb, und der gelöste Stoff kann durch verschiedene Mittel, durch 
Zusätze, Temperaturerhöhung, Einwirkung des elektrischen Stromes zur Ausscheidung 
gebracht werden. Die Untersuchungen von Siedentopf und von Zsigmondy (1903) 
lieferten den Beweis dafür, daß in solchen Lösungen die Materie in sehr feiner Verteilung 
sich befindet, einer Verteilung, die mittels des Ultramikroskops direkt beobachtet und 
bis zu einem gewissen Grade gemessen werden konnte. Die Dimensionen der Teilchen 
  
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